piwik no script img

Erschreckend klarsichtig

Was bedeutet Wahrheit im postfaschistischen Chile? Das Theater Orlando schafft mit „Der Tod und das Mädchen“ einen Abend voller Beklemmung im Rasteder Palais

Die Grenzlinien zwischen Gut und Böse verlaufen quer durch jeden Einzelnen

Es ist dunkel. Licht scheint auf, gleißend hell dringt es durch die Ritzen eines schwarzen Podestes, eine weiße Lilie leuchtet auf. Der Mann und die Frau sind wie gefroren, im Smoking, im Abendkleid. Sie hören Schubert im Konzertsaal. Ein Bild in Schwarz-Weiß.

Regisseur Björn Kruse bringt mit dem Rasteder Theater Orlando “Der Tod und das Mädchen“ von Ariel Dorfman in klaustrophobischer Enge an den Zuschauer heran, denn der stuckverzierte Saal des Rasteder Palais bietet nur einer Hand voll Menschen Platz. Es gibt kein Entrinnen. Das ist schließlich Paulinas Realität, die von Sylvia Meining in teils überwältigender Dichte verkörpert wird.

Paulina ist Folteropfer der Pinochet-Diktatur in Chile. Ihre Qualen sind unsagbar geblieben zwischen ihr und ihrem Mann, Gerardo Escobar (Ulf Goerges). Gerardo ist Anwalt. Er glaubt an die Gerechtigkeit. An diesem Abend kommt er verspätet nach Hause, schon abgenervt, weil Paulina ihn wieder nur mit Verdächtigungen quält, er sei ihr untreu. Zu diesen Anwürfen erwacht sie aus ihrem Stupor, durchbricht die routinierte und erschreckend klarsichtige Depression. Starke Momente plötzlich hervorbrechender Wut oder zugewandter Zärtlichkeit, ein Wechselbad. Paulinas Wahrheit kriecht unter die Haut.

Ohne, dass wir sie zu diesem Zeitpunkt überhaupt kennen, teilt sich diese Wahrheit im Spiel Sylvia Meinings als Kontrast zu der postfaschistischen Demokratiegläubigkeit ihres Mannes mit. Denn auch die Wahrheitskommission, in die Escobar vom Präsidenten berufen wurde, belässt die Täter in der Anonymität.

Escobar kommt an diesem Abend aufgrund einer Reifenpanne verspätet, ein netter Mensch hat ihm geholfen. Und dieser smarte Doktor Roberto Miranda (routiniert: Berthold Schirm) klopft noch nächtens an der Tür, als Paulina schon schläft, um Escobar zur Berufung zu gratulieren. Die Männer diskutieren, plaudern harmlos.

Abblende: Paulina im Türrahmen, von hinten beleucht, ein Schatten. Die Stimmen der Männer im Off, als Bandaufnahme. Kalter Schrecken: In einem Moment der Erkenntnis hört Paulina die Stimme ihres Peinigers. Es ist dieser nette Helfer im Nebenraum, der ihr Elektroschocks durch die Genitalien gejagt hat, um sie dann zu vergewaltigen. Er hörte Schubert dabei.

Sie fesselt ihn, will ihn zu einem Geständnis zwingen. Er erklärt sie für verrückt und auch Escobar mag seiner Frau nicht trauen. Doch der verrät sich selbst immer mehr im Abstreiten von Fakten, die Escobar nun erfährt, erfahren will.

Dabei geht auch es auch um seine eigene Wahrheit, um die unaussprechliche Schuld in der Beziehung zu Paulina: Sie hat ihn auch unter Folter nicht verraten, während er sie mit einer anderen Frau betrog. In jener Nacht, die sie ihm nun in Einzelheiten schildert. Einzelheiten, die den smarten Dr. Roberto Miranda dazu bringen, sein wahres Gesicht zu zeigen.

Der Glaube an das Gute: Eine Falle, in die auch Gerardo zu tappen drohte, mit seinem Glauben an die Demokratie, in der Paulina schweigen soll, parallel zur Verdrängung ihrer Beziehungswahrheit. Dass solch politische Interventionen im Namen des Guten Akte der Verdrängung befördern, dass hingegen die Grenzlinien zwischen Gut und Böse, Schwarz und Weiß quer durch jeden Einzelnen verlaufen, bleibt als ganze Wahrheit dieses Theaterabends in aller Beklemmung zurück. Marijke Gerwin

nächste Vorstellungen: 22.-24. und 27.-30.11.. Karten ☎ 04402 - 59 88 20

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen