An der Kulturquelle

Schatzkammer des Zaren: Die 13. Berliner Märchentage präsentieren die Vielfalt der russischen Märchenkunst

Märchenstunde im Kaminraum: Etwa 100 Erwachsene und ein Kind warten ungeduldig auf den Beginn der Vorlesung. Das schummerige Licht, die Gemütlichkeit des Raums und das leise Flüstern der Gäste bewirken einen Anflug von leichter Müdigkeit. Man wird aber hellwach, sobald der Vorleser Henning Westphal den Raum betritt. Er liest am heutigen Abend aus Leo Tolstois Märchen „Wovon lebt der Mensch“. Westphal konzentriert sich kurz und beginnt: „Eines Abends begegnet der Schuster Semjon einem Mann, der im tiefsten Winter splitternackt vor einer Kirche kauert …“

Von der ersten Minute an kleben die Blicke der Erwachsenen an seinen Lippen. Man könnte einen Stecknadelkopf fallen hören, so still ist es. Westphal beherrscht die Kunst des Lesens perfekt: Er trägt in mittlerer Geschwindigkeit vor, setzt ausreichend viele Pausen und das Wichtigste – seine Körpersprache begleitet den Text. Die Erlösungsgeschichte eines Engels in Menschengestalt, der sich im Hause des Schusters Semjon einnistet, begeistert das Publikum. Der Zuspruch deutet darauf hin, dass vorgelesene Märchen die Sehnsucht nach der mündlichen Erzählung stillen.

Die Lesung im Literaturhaus Fasanenstraße ist eine von rund 600 Veranstaltungen der 13. Berliner Märchentage. Schwerpunktthema sind in diesem Jahr Märchen aus Russland. Unter dem etwas merkwürdigen Motto „Die Schatzkammer des Zaren“ werden Märchen aus Sibirien, Kamtschatka oder dem Ural geboten, wie die Veranstalter der Neuen Gesellschaft für Literatur e.V. auf der Pressekonferenz in der Russischen Botschaft mitteilten. „Die Märchen sind die Quelle unserer Kultur“, schwärmteMichail A. Gaber, Leiter für Presseinformation und Kultur der Russischen Botschaft, und dass die Politik der Deutsch-Russischen Annäherung mit den Märchentagen fortgesetzt würde. Selbstverständlich durfte in diesem Kontext der Hinweis auf Wladimir Putins Deutschkenntnisse nicht fehlen. Märchentage als Politikum? Die unfreiwillige Komik dieser Botschaft liegt in Zeiten restriktiver Pressegesetze und Zensur auf der Hand.

Das umfangreiche Vorlesungs- und Aufführungsprogramm der Berliner Märchentage wird inzwischen auf 140 Seiten in Buchform präsentiert. 1990 aus kleinen Anfängen im Rahmen lokaler Kulturarbeit entstanden, entwickelten sich die Märchentage zuletzt zu einem internationalen Großevent. Das Vorlesungsprogramm wird begleitet von der russischen Märchen-Filmwoche „Bären, Birken, Baba Jaga“ im Russischen Haus und dem Kino Toni. Dem Märchen aus wissenschaftlicher Sicht wendet sich am 23. November im Gebäude der Allianz das Internationale Symposium „Der Kosmos russischer Märchen“ zu. Ein Highlight dabei: die Gesprächsrunde mit Benno Besson, Ursula Karusseit und Eberhard Esche über die legendäre Inszenierung „Der Drache“ von Jewgeni Schwarz am Deutschen Theater 1965. ROBERT HODONYI

Bis zum 24. November, genaue Termine siehe täglich taz-Plan-Seiten 2 und 3