IN ITALIEN SCHREITET DIE ZÄHMUNG DER JUSTIZ DURCH DIE POLITIK VORAN
: Ehre – wem sie gebührt

24 Jahre Haft als Auftraggeber eines Mordes – wer diesen Richtspruch empfängt, muss gewöhnlich nicht nur mit Knast, sondern auch mit gesellschaftlicher Ächtung rechnen. Anders in Italien: Da braucht der frisch verurteilte Giulio Andreotti keineswegs befürchten, nun als Bösewicht dazustehen. Stattdessen darf er sich als Märtyrer feiern lassen. Noch liegt die Urteilsbegründung gar nicht vor, da wissen schon ganz viele: Ein Staats- und Ehrenmann wie Andreotti kann die Tat einfach nicht begangen haben, die ihm jetzt die Verurteilung eintrug. Von Berlusconi, vom Kammerpräsidenten Pierferdinando Casini, vom Vatikan hagelt es Solidaritätsbekundungen. Die andere Seite der Medaille ist Justizschelte in den gröbsten Tönen.

Mehr Gelassenheit ist nötig und die Diskussion über ein paar elementare Fragen: zum Beispiel über jene nach der Glaubwürdigkeit der Kronzeugen. Die war immer gegeben, solange die Mafiosi gegen ihresgleichen aussagten. Tommaso Buscetta, der erste prominente „Reuige“, half in den Achtzigern, hunderte Bosse in die Haft zu schicken. Kaum aber begann er in den Neunzigern, über den Zusammenhang von Mafia und Politik zu reden, wurde er als Märchenonkel abgetan. Dabei weiß in Italien jedes Kind: Die Mafia verdankte ihre Macht nicht zuletzt den glänzenden Kontakten zur Politik. Und jeder weiß: Sizilien war eine der Hochburgen Andreottis, war das Feudum seines mehr als umstrittenen Statthalters Salvo Lima.

Ob der Schuldspruch trägt, wird sich zeigen müssen. Jenseits der strafrechtlichen Schuld des Altpolitikers wäre jedoch eine Debatte über seine politische Verantwortung fällig. Stattdessen wird das Gegenteil geboten: Die erfolgte Verurteilung wird zum Anlass eines moralischen Freispruchs erster Klasse. Und damit zum faktischen Verbot, Kontakte zwischen Mafia und Politik überhaupt zum Gegenstand von Ermittlungen zu machen.

So erfüllt die aufgeregte Urteilsschelte ihren Zweck – jenseits der Person Andreottis. Es gehe einfach nicht an, dass Richter „die Geschichte Italiens neu schreiben“, donnert Silvio Berlusconi und verfügt nicht nur einen Generalfreispruch für die Politik in Vergangenheit und Gegenwart, während noch in Palermo sein Intimus Marcello Dell’Utri als Freund der Mafia angeklagt ist. Mehr noch: Berlusconi verkündet einen ebenso generellen Schuldspruch gegen jene Richter, die immer noch wagen, ihre Nase in die Taten der Politiker zu stecken. Andreotti steht zwar noch der Rechtsweg offen, doch Berlusconi weiß schon einen anderen Weg: die endgültige Zähmung der Justiz per Radikal-„Reform“. MICHAEL BRAUN