Gegen den Terror absoluter Wahrheiten

Der Kollaps des italienischen Parteiensystems bringt undogmatische politische Denker hervor. Mit Gianni Vattimo bekommt schon der zweite von ihnen den Bremer Hannah Arendt-Preis für politisches Denken. Der Philosoph und Politiker stellt Denktabus im eigenen, linken Lager in Frage
Von Franco Zotta

Spaß am politischen Tabubruch: Erneuerer oder bürgerlicher Revisionist?

Kennst du das Land, wo die Idioten blüh’n? Zumindest in Italiens derzeit regierender Rechtskoalition ist die Blütenpracht beachtlich. Gianfranco Fini, bekennender Mussolinifan, gibt den Vize-Ministerpräsidenten. Sein Vorgesetzter Silvio Berlusconi, gelernter Kaffeefahrtenentertainer und im Nebenberuf einer der größten Medienunternehmer Europas, bastelt mit Nachdruck daran, Italien zu einer Filiale seines Firmenimperiums zu machen. Das Trio Infernale komplett macht schließlich Umberto Bossi, Chef der Lega Nord, einer zunehmend faschistoiden nord-italienischen Separatistenbewegung, für die die ekelhafte Dritte Welt knapp hinter Mailand beginnt, weshalb Bossis Partei für eine Loslösung des Nordens vom Rest Italiens und den Rauswurf aller Migranten kämpft.

Lang ließe sich darüber sinnieren, wie es der italienischen Linken nur gelingen konnte, sich trotz der dürftigen Qualitäten dieses politischen Gegners dennoch auf den Oppositionsbänken wiederzufinden. Gianni Vattimo, dem am Wochenende im Bremer Rathaus der Hannah Arendt-Preis für politisches Denken 2002 verliehen wird, dürfte darüber beredt Auskunft geben können, zählt der 1936 in Turin geborene Philosoph doch seit Jahren zu den führenden Köpfen der parteipolitisch organisierten italienischen Linken.

Es ist kein Zufall, dass der Arendt-Preis innerhalb kurzer Zeit zum zweiten Mal an einen italienischen Philosophen und Politiker verliehen wird – wohl in keinem anderen Land Europas ist die repräsentative Parteiendemokratie mit dem Ende des Kalten Krieges in eine so tief greifende Legitimationskrise geraten und hat so die Neudefinition des Politischen jenseits der tradierten Wege notwendig gemacht. Die biografischen Parallelen zwischen Vattimo und Massimo Cacciari, dem ehemaligen venezianischen Bürgermeister und Arendt-Preisträger von 1999, sind vor diesem Hintergrund frappierend.

Beide sind Professoren der Philosophie, die die Ästhetik als wichtige Inspirationsquelle ihrer politischen Visionen betrachten. Beide stammen ursprünglich aus linksradikalen Milieus und haben heute ihre politische Heimat in der sozialdemokratisch gewendeten Nachfolgepartei der kommunistischen PCI. Beide verbindet schließlich die Liebe zum stetigen politischen Tabubruch, der sich insbesondere in der positiven Bezugnahme auf Denktraditionen zeigt, die aus der Perspektive der in der antinazistischen Resistenza wurzelnden italienischen Linken allesamt aus dem Giftschrank des Faschismus stammen.

Umstrittene deutsche Denker wie Nietzsche, Heidegger oder Carl Schmitt dienten Cacciari wie dem Gadamer-Schüler Vattimo wiederholt als Ausgangspunkt öffentlicher Interventionen, mit denen sie die traditionelle Linke in Grundsatzdebatten etwa über die Haltung zur Nation, zum Kapitalismus oder der künftigen Bedeutung der Arbeiterbewegung zwangen. Gilt der auch publizistisch sehr aktive Vattimo ob dieser Interventionen dem moderat-reformerischen Flügel der Linken als mutiger Erneuerer, wird er insbesondere im Umfeld der einflussreichen kommunistischen Tageszeitung „Il Manifesto“ als bürgerlicher Revisionist betrachtet. Das zeigt sich nicht zuletzt in der Bewertung der außerparlamentarischen Globalisierungskritiker. Während die traditionelle Linke die Bewegung als längst fällige Rückkehr radikaler Kapitalismuskritik auf die politische Agenda feiert, kritisiert Vattimo die Antiglobalisierer als Populisten, die mit ihrer fundamentalen, moralisch motivierten Verurteilung der Weltordnung keine sinnvolle politische Strategie verknüpften.

Vattimos politischer Pragmatismus speist sich unmittelbar aus seinen philosophischen Überzeugungen. Der ins Europaparlament gewählte Vattimo misstraut zutiefst allen Theorien, die sich im Besitz der letztgültigen Wahrheit wähnen. Solchen „großen metaphysischen Erzählungen“, zu denen der Turiner den deutschen Idealismus ebenso zählt wie die Freud’sche Psychoanalyse oder den Marxismus, ist laut Vattimo die Tendenz zu fundamentalistischem Missionarentum und Gewalt gegenüber dem Andersdenkenden notwendig eigen. Derartige totale Welterklärungsansätze arbeiteten fortwährend mit einer Hermeneutik des Verdachts: All jene werden denunziert, die der Durchsetzung der einen Wahrheit im Wege stehen.

Im Geist der Postmoderne setzt Vattimo diesem starken Herrschaftsdenken demonstrativ seine Vorstellung des „pensiero debole“, des „schwachen Denkens“ entgegen. Der mit damit einhergehende Verzicht auf einen absolutistischen Wahrheitsanspruch verknüpft sich mit einem emphatischen Bekenntnis zum Pluralismus: Die Relativität des je eigenen Standpunktes ist demnach kein Manko, sondern im Gegenteil der unhintergehbare Ausgangspunkt, die einzige schützenswerte Wahrheit in einer funktionierenden Demokratie.

Vattimos ausgeprägtes Gespür für die Opfer fundamentalistischer Wahrheitsansprüche speist sich nicht zuletzt auch aus einschneidenden biografischen Erfahrungen. In einem vor zwei Jahren geführten Interview mit der Tageszeitung „La Repubblica“ berichtet der 66-Jährige eindrücklich von jenen Drangsalierungen, denen er auf Grund seiner Homosexualität jahrzehntelang sowohl von Seiten der katholischen Kirche als auch seitens der nicht minder homophoben kommunistischen Partei ausgesetzt war. Vattimo selbst beschreibt seine damalige Hinwendung zur 68er-Bewegung als Folge jener Diskriminierungen, die er als Schwuler erlebt hat.

Die Kirche und die kommunistische Partei sind deshalb wohl nicht zufällig jene beiden Institutionen, deren Reform im Sinne des „schwachen Denkens“ Gianni Vattimo sich zur lebenslangen Aufgabe gemacht hat. Sein jüngstes Buch ist nicht von ungefähr ein Plädoyer „für ein nicht religiöses Christentum“. In einem Land, wo die Idioten blüh’n, gleicht das dem Tagewerk des Sisyphos. Aber wir sollen uns Sisyphos ja als glücklichen Menschen vorstellen.

Morgen um 13.15 Uhr hält Gianni Vattimo an der Universität (GW 2, Raum B 2890) einen Vortrag über „Hermeneutik und Emanzipation“ (in englischer Sprache). Am Samstag ab 14.30 Uhr spricht er in der Oberen Rathaushalle zum Thema „Antiglobalismus, Populismus und der Sinnverlust des Politischen“, anschließend Diskussion. Ab 18 Uhr findet die Verleihung des Hannah-Arendt-Preises an Vattimo statt.

Fotohinweis: Der Autor war bis 2001 Kulturredakteur der taz bremen und ist heute Referent der Bertelsmann-Stiftung. Er hat über Kants politische Philosophie promoviert.