Ein Konzept fürs Museum

Die Nato soll sich an präventiven Kriegen beteiligen. Das fordern jedenfalls die USA beim Gipfel der Allianz in Prag. Dabei ist das Bündnis längst anachronistisch geworden

Noch jeder Strategie-wechsel der USA stand über kurz oder lang in den Dokumenten der Allianz

„Tödliche Schläge mit punktzielgenauen Präzisionswaffen schnell und flexibel“ austeilen zu können, fordert Washington von seinen europäischen Bundesgenossen. So hat es der Nato-Botschafter der USA dieser Tage seinen deutschen Zuhörern ins Stammbuch geschrieben. Dafür wird ein besonderer Einsatzverband geschneidert, die „Nato Response Force“, rund 20.000 Soldaten stark, aus Land-, Luft- und Seekomponenten bestehend, in fünf bis dreißig Tagen verlegbar und ausgerüstet, um in feindlichem Umfeld zu operieren. Bis Herbst 2004 soll die neue Truppe stehen, zwei Jahre später voll einsatzbereit sein.

Die zweite Erwartung, über die sich die Gipfelgranden in Prag den Kopf zerbrechen müssen, geht in dieselbe Richtung: mehr militärische Schlagkraft durch zusätzliche Rüstung. Seit 1999 propagiert das ehrgeizige Nato-Verstärkungskonzept kostspielige Entwicklungs- und Beschaffungsprogramme. Nur stehen die meisten davon immer noch auf dem Papier. Wo bleiben die europäischen Aufklärungsmittel, Langstreckentransporter oder Präzisionsgeschosse? Das Pentagon wird ungeduldig, verlangt einen neuen Anlauf und ein gestrafftes Programm. Aber diesmal, bitte schön, keine blumigen Versprechen, sondern Fakten, Stückzahlen, Termine.

Forderung drei: Klotzen, nicht kleckern beim nächsten Ausdehnungsschub der Nato nach Osten. Mit dem Einschluss Litauens, Lettlands und Estlands wird die von Moskau stets so genannte rote Linie überschritten. Die Nato expandiert auf vormals sowjetisches Territorium. Und Washington will mehr. Auch die armen, instabilen Balkanländer Rumänien und Bulgarien sollen das begehrte Einladungsschreiben erhalten, Aufnahmekriterien hin oder her.

Nie hat die atlantische Allianz in den Augen der USA so tief im Kurs gestanden wie nach dem 11. September 2001. Was die Amerikaner militärisch erledigen wollten, konnten sie auch ohne fremde Hilfe. Bei der Antiterroroperation „Enduring Freedom“ durften die Partner mitmachen, aber nicht mitreden. Die beflissene Ausrufung des Bündnisfalls – wie lange bleibt er eigentlich noch bestehen? – wurde mit Achselzucken quittiert. Manchem Nato-Offizier dünkt inzwischen ein Job bei einem Verbindungsstab des für die US-Militärschläge gegen al-Qaida zuständigen Central Command in Florida weit karriereträchtiger als die Routine der Brüsseler Büros.

Denn die Mission bestimmt die Koalition, nicht umgekehrt, so die neue Devise. Für die Alliierten auf dem alten Kontinent hieß das: Ihr seid entbehrlich, außer als willige Gefolgschaft. Jedenfalls bis der politische Blick nicht mehr auf Ussama Bin Laden ruhte, sondern auf Saddam Hussein fiel. Ein Krieg am Golf wäre von anderem Kaliber als der Feldzug am Hindukusch. Warum nicht vorsorglich und langfristig auf die bewährte Lastenteilung zurückgreifen? Das Interesse an der schlummernden Nato erwachte neu. Seither sind die Amerikaner wieder im Bündnis aktiv. Sie diktieren die Themen, die verstörten Europäer plappern sie nach.

Im Juni ließen sich die Verteidigungsminister den akuten Mangel an verlegbaren Kampftruppen „für Operationen weit entfernt von den Heimatstützpunkten und ohne größere Unterstützung durch eine Gastgebernation“ ins Kommuniqué schreiben. Im September setzte Donald Rumsfeld nach und zog die „Response Force“-Idee aus dem Hut.

Stünde in Prag ein einziger Vorschlag zur Debatte, der geeignet wäre, bestehende Sicherheitsprobleme zu entschärfen oder heraufziehende Gefahren abzuwenden, müssten die Regierungen sich ernsthaft damit auseinander setzen. Sie wissen es besser. Für ein klassisches Verteidigungsbündnis mit dann 26 Mitgliedern und mehr als vier Millionen Soldaten unter Waffen fehlt ersichtlich der Bedarf. Terrorbekämpfung ist eine Aufgabe von Politik, Polizei und Nachrichtendiensten, aber in kaum einem Fall auch für militärische Streitkräfte. Und gegen die Risiken der Ausbreitung von Massenvernichtungswaffen gibt es wirksamere Instrumente als die Androhung von Luftschlägen.

Gewalt gegen Gewalt zu setzen hat die Welt nicht sicherer gemacht. Die Verrohung staatlichen Handelns ist der Preis für die militärisch verkürzte Antwort auf den internationalen Terrorismus. Jede Schandtat, die sich mit einem antiterroristischen Motiv bemänteln lässt, darf mittlerweile auf öffentliches Verständnis zählen: Die Führung in Moskau liquidiert verhaftete Erpresser per Genickschuss. Israel nimmt eine ganze Bevölkerung in Geiselhaft. Pakistan und Indien decken wechselseitig terroristische Praktiken, um ihre Anhänger zu unterstützen und ihre Gegner zu verfolgen. Die Politik hat abgedankt. Für alle drei Krisenherde – Tschetschenien, Palästina, Kaschmir – ist die Suche nach Verhandlungslösungen praktisch zum Erliegen gekommen. Dabei wäre nichts dringlicher, um den Nährboden terroristischer Auflehnung auszutrocknen, als die Beilegung der blutigen Regionalkonflikte.

Mehr politischen Verstand braucht die westliche Staatengemeinschaft, genügend Muskeln hat sie schon. Unter allen Optionen Europas wäre die einfältigste der Versuch, Amerikas Vorsprung an Waffenmacht zu verringern oder sie gar einzuholen. Hinter vorgehaltener Hand nennen europäische Politiker den Rüstungshaushalt der Vereinigten Staaten maß- und ziellos. Die Hoffnung, einen Irrweg durch Nachahmung zu korrigieren, folgt einer abstrusen Logik.

Das gilt nicht minder für das strategische Denken. Noch hat jede Variante der USA über kurz oder lang Eingang in die Dokumente der Allianz gefunden. Die neue Doktrin „präventiver Selbstverteidigung“ wird davon keine Ausnahme machen. Sie wurzelt in der seit mindestens hundert Jahren überwunden geglaubten Auffassung, dass staatliche Souveränität die Kriegsführungssouveränität einschließe. Dagegen setzt das moderne Völkerrecht das Gewaltverbot. Der Gründungsvertrag der Nato nimmt darauf Bezug.

Für ein klassisches Verteidigungs-bündnis mit vier Millionen Soldaten fehlt der Bedarf

Mit einem Federstrich hätte sich das westliche Bündnis von seiner Rechtsgrundlage wie von senem Verständnis als Wertegemeinschaft verabschiedet. Denn der Präventivkrieg ist eben kein Verteidigungsakt, sondern das Gegenteil, ein Angriffskrieg. Um möglichen Aggressoren Paroli zu bieten, hatten sich die Mitgliedstaaten einst zusammengeschlossen. Sie würden selbst zum Aggressor, machten sie sich die Rechtfertigunslehre der präventiven Selbstverteidigung zu eigen. Anwender legaler Gegengewalt wären dann die Angegriffenen. Oder nach gängiger Lesart: die Schurkenstaaten.

Die Nato hat ihre Zeit gehabt, auch ihre Verdienste. Solange die Welt in zwei verfeindete Lager gespalten war, bildete sie einen der beiden Stützpfeiler, ohne die der monströse atomare Abschreckungsfrieden nicht funktionieren konnte. Das ist Vergangenheit, dafür wird sie nicht mehr benötigt. Ab mit ihr in das Museum für transatlantische Geschichte. Zur Lösung der neuen Konflikte taugt das Konzept der Nato jedenfalls nicht mehr.

REINHARD MUTZ