Das Vakuum richtig bewegen

Dietmar Beiersdorfer, der neue Sportchef des Hamburger Sportvereins, vor der Hauptversammlung des HSV heute im CCH über Perspektiven, Identifikationen und „Kultur“ des Traditionsclubs

von JÖRG FEYER

An seine letzte Jahreshauptversammlung beim HSV kann er sich nicht mehr wirklich erinnern. Es muss wohl 1991 gewesen sein, damals, als Dietmar Beiersdorfer noch selbst die Fußballschuhe für die Rothosen schnürte, bevor er über den Umweg als Wirtschaftsprüfer in Straßenschuhen erneut seinen Dienst beim Verein aufnahm. Heute abend im CCH tritt der Ex-Kapitän nach 99 Tagen im Amt erstmals als Sportchef vor die Mitglieder des Vereins, als entscheidende Vorstands-Größe nach dem vorzeitigen Abgang des großen Vorsitzenden Werner Hackmann.

Die Nachfolge-Spekulationen registriert Beiersdorfer „relativ leidenschaftslos“, denn „im Moment hat das keinen Einfluss auf meine Arbeit.“ Die beschreibt der 39-jährige Franke gern mit einem Begriff, der dem Bundesliga-Biotop sonst so fremd ist wie Dieter Bohlen das Repertoire von Blur. Dietmar Beiersdorfer spricht also auffallend oft von „Kultur“, wenn er bedächtig formulierend die „Bausteine“ einkreist, die einen Verein mit großer Vergangenheit aus der sportlich eher faden Gegenwart in eine bessere Zukunft führen sollen. Ganz oben rangiert bei ihm die „Integration“ von Profis und Talenten; dem Nachwuchs aus dem seit 2000 betriebenen HSV-Internat soll die „Sackgassensituation“ künftig erspart bleiben. Was angesichts rückläufiger TV-Gelder und laufender Betriebskosten nicht nur „wirtschaftlich zwingend notwendig“ sei, sondern obendrein der „Identifikation“ mit dem Verein diene und Sogkraft auf jene Lokaltalente entfalte, die „jetzt vielleicht noch sagen: HSV? Da gehe ich lieber zu Werder.“

Langfristig hofft Beiersdorfer so auf ein „gewisses Gerippe“ aus der eigenen Jugend mit „regionaler Verflechtung“, das vielleicht ein Viertel des Profi-Kaders stellt. Dem werden Tomas Ujfalusi und wohl auch Sergej Barbarez als Leistungsträger erhalten bleiben, eine „finanzielle Mehrbelastung“, welche die Ausdünnung des aufgeblähten Kaders möglichst schon zur Winterpause auffangen soll. Doch steuert die Kostenspirale längst auf den toten Punkt zu. „Wenn wir nicht bald mehr Erträge einspielen, wird das Budget nicht zu halten sein.“ Für einen Uefa-Cup-Etat muss halt langsam mal der entsprechende Tabellenplatz her.

Die HSV-Kultur der Zukunft, das ist für Dietmar Beiersdorfer aber auch „Gemeininteresse vor Eigeninteresse, transparenter werden, mehr kommunizieren: Es sind viele Punkte, die nicht von heute auf morgen zu machen sind.“ Bewegen will er, und zwar „ein Vakuum in die richtige Richtung“, nicht bloß schnell ein paar Strippen ziehen, die dann wieder durch die Gegend baumeln. Weshalb es auch kaum wie Aktionismus anmutet, wenn der Prototyp des Anti-Lautsprechers binnen 48 Stunden mit empörten Anhängern im Fan-Zug nach der herben Schlappe auf Schalke diskutiert und den Senioren der gediegenen Montagsrunde im Elysée-Hotel hinter verschlossenen Türen Rede und Antwort steht. Wo er mehr Erkenntnisse sammeln konnte, möchte Beiersdorfer nicht öffentlich sagen, wohl aber ausnahmsweise unbescheiden, dass es „zu meinen Stärken gehört, mich in verschiedenen Welten zu bewegen. Und das ist auch wichtig, weil es ja total viele Anspruchsgruppen in so einem Verein gibt.“ Mit denen müsse man sich auseinandersetzen, „ohne sich gleich alles auf den Buckel zu laden.“

Aus dieser Maxime erwächst kein Herrschaftswissen für Machtspiele, sondern ein etwas anderer Macher, der – auch wenn es „nicht so klasse klingt“ – sogar das Wort „ganzheitlich“ in den Mund nimmt und sich ausdrücklich „nicht unabkömmlich“ machen will. „Was ich hier erarbeite, das versuche ich auch hier zu lassen. Weil ich davon überzeugt bin, dass nur so eine Entwicklung stattfinden kann.“ Das just initiierte neue Sichtungssystem etwa soll auch dann noch „mehr Entscheidungsgrundlagen“ für Spielerkäufe liefern, wenn Beiersdorfer mal nicht mehr beim HSV ist.

Das „Dilemma“ (Beiersdorfer) jedes Verantwortlichen auf dieser Ebene aber wird auch Dietmar Beiersdorfer nicht auflösen. Der Druck, im Tagesgeschäft Bundesliga reüssieren zu müssen, kann halt kaum zusammenfinden mit der Notwendigkeit, langfristig Perspektiven aufzuzeigen und Strukturen zu schaffen. Was aktuell heruntergebrochen nichts schöner symbolisiert als die Personalie Rodolfo Cardoso. Gewiss, es ist schön, dass der Mittelfeld-Magier mit dem Problem-Knie „wieder spielt und wie er spielt. Aber grundsätzlich ist das natürlich keine verlässliche Situation.“

Was dann und auch in ähnlichen Situationen hilft? Gern, ja leidenschaftlich HSVer sein und trotzdem nicht in Betriebsblindheit verfallen. „Ich merke ja auch, wie ich nach und nach hier reingezogen werde“, hat Beiersdorfer registriert. „Die Weltmeisterschaft“ bestehe halt darin, „drin zu sein und trotzdem draußen. Drin zu sein, um Vertrauen zu schaffen und zusammenzuführen, draußen, um zu schauen, wie es von da aussieht.“

Heute abend ist „Didi“ aber drin im CCH. Auf die Frage, welche Erwartungen er denn an seine erste Jahreshauptversammlung als Sportchef habe, antwortet Beiersdorfer, dass er sich „noch gar keine Gedanken drüber gemacht“ habe. Was bei ihm nicht nach Koketterie klingt. Gewiss hofft er, dass ihm die Anhänger nach dem kleinen Aufwärtstrend mit dem ersten Auswärtssieg seit Monaten gewogen sind, „die Gemütslage in diesem Geschäft ist ja immer sehr kurzfristig. Andererseits ist es ja schon die letzten Jahre nicht so prall gelaufen. Das gibt halt Anlass zu Reklamationen.“

Selbst ein Dietmar Beiersdorfer ist vom Umtausch nicht ausgeschlossen. Ob der Verein das mal bedauern wird, muss sich erst noch zeigen.