: Ins heiße Wasser gefallen
In einem ihrer besten Spiele des wohlgelungenen Jahres 2002 verliert die deutsche Fußball-Mannschaft gegen die Niederlande mit 1:3, aber Teamchef Rudi Völler mag sich nicht recht ärgern
aus Gelsenkirchen MATTI LIESKE
„Mit dem Jahresende ist die WM endgültig vorbei“, verfügte Teamchef Rudi Völler am Mittwoch anlässlich des 1:3 der deutschen Fußballer im Länderspiel gegen die Niederlande. Es klang ein bisschen nach Erleichterung und Genugtuung, aber auch nach frischem In-die-Hände-Spucken und Abschied von alten Zöpfen. Und wenn denn die Pre-Game-Show in der Arena AufSchalke den Brückenschlag von Japan und Südkorea 2002 hinüber zu Deutschland 2006 symbolisieren sollte, dann war dieses Vorhaben prächtig gelungen. Erst eine feingliedrig-fernöstliche Gong- und Trommelzeremonie mit eleganter Tai-Chi-Pantomime und Luftakrobatik, danach das Landespolizeiorchester mit den Nationalhymnen.
Einer der Hauptdarsteller der Asien-Performance war ein Glatzenmann mit Carsten-Jancker-Anmutung, der sich auch ungefähr so langsam bewegte wie dieser vor dem Tor. Allein, er war es nicht, und blieb auch später fern. Statt des verletzten Jancker war kurzfristig Fredi Bobic (31) nach Gelsenkirchen gekommen, was bewies, dass es Rudi Völler ernst meint mit seiner Ankündigung, jeder bekomme seine Chance – offenbar sogar ein alter Zopf. Und damit ihn keiner geriatrischer Anwandlungen tadeln könne, drohte der Teamchef den Janckers dieser Welt gleich noch mit Kevin Kuranyi (20), dem Schwaben-Knipser, der gerade zwei Tore gegen die Nachwuchsoranjes erzielt hatte.
Womit der Finger zielsicher auf jene Wunde gelegt war, welche das deutsche Team seit den großen Zeiten eines Klinsmann, Bierhoff und natürlich Ruuudi himself beständig plagt: der Sturm. „Wir haben unsere Chancen nicht genutzt“, lautet Völlers Dauerlamento seit Amtsantritt, doch selten wurde dieses Manko so deutlich wie gegen die Niederländer. Eine Partie, in der die deutsche Manschaft taktisch, kämpferisch, spielerisch und meist sogar technisch erstaunlich gut mithielt, ging verloren, weil der Gegner die besseren Angreifer hatte – und zwar gleich vier an der Zahl. Das Duo Kluivert/Makaay wurde gegen van Nistelrooy/Hasselbaink ausgetauscht, allesamt weit stärker als alles, was einen deutschen Pass besitzt. Dies, obwohl Fredi Bobic bei seinem Comeback nach fast fünf Jahren eine starke Leistung bot, einen Treffer erzielte und immer dort war, wo ein Torjäger sein muss. „Er hat seine Chance genutzt“, freute sich Völler, zum holländischen Quartett fehlt dennoch ein kleiner Quantensprung. Das nämlich, so Bondscoach Dick Advocaat, „könne Tore schießen, wo es andere Stürmer nicht können“. So geschehen in der ersten Halbzeit, als Kluivert seinen Fuß schlangengleich um das Schienbein von Rehmer herum wand und den Ball ins Tor filigrante, oder in der zweiten, als Hasselbaink und van Nistelrooy resolut Patzer der deutschen Abwehr ausnutzten.
„Von einer Klassemannschaft, wie sie die Holländer haben, werden kleinste Kleinigkeiten brutal bestraft“, sagte der Teamchef, der mit der paradoxen Situation fertig werden musste, ein klar verlorenes Spiel ziemlich großartig zu finden. „Es ist das klassische nackte Ergebnis, was weh tut“, räumte er ein, ansonsten habe es Siege gegeben, „über die man sich nicht so gefreut hat wie über diese Niederlage.“
Als Standortbestimmung galt das Match gegen die WM-Abstinenzler allgemein, ein Anspruch, den es vollauf erfüllte. Hatten in früheren Spielen gegen den gleichen Gegner fußballerische Welten zwischen den Teams geklafft, vor allem in taktischer Hinsicht, war davon diesmal nichts zu bemerken. Man sah, dass die DFB-Mannschaft Räume zu nutzen weiß, die ihr der Gegner lässt, und tatsächlich das bieten kann, was Völler in Gelsenkirchen als klaren Anspruch definierte: „Wir wollen, wenn’s geht, auch ein paar spielerische Highlights setzen.“
Gleichzeitig wurden die Defizite gegenüber den Topteams deutlich. „Es ist ja nicht so, dass wir heute das heiße Wasser erfunden haben“, metapherte der Teamchef drauflos, „wir wussten ja, dass man, wenn man Vizeweltmeister wird, nicht automatisch die zweitbeste Mannschaft der Welt ist.“ Völler weiß selbst am besten, dass gemeine Fehlerbestrafer wie die Holländer bis zum Finale nicht im WM-Weg der Deutschen standen.
Patzerminimierung heißt daher die Devise für das nächste Jahr, Steigerung der Effizienz im Angriff und vor allem eine Stabilisierung der spielerischen Leistung auch gegen kleinere und vor allem defensivere Gegner. „Das Ziel ist, gegen Mannschaften, die kompakt stehen, Mittel zu finden, sich Torchancen zu erarbeiten“, dozierte Völler.
Während die Holländer brav die Deutschen lobten, aber ihre eigene Leistung nicht besonders toll fanden, fiel im DFB-Team die Fülle von Alternativen auf. Kaum jemand versäumte es zwar, die vielen Ausfälle zu beklagen, doch das Lamento ging ins Leere. Keiner, der fehlte, wurde wirklich vermisst, und dass etwa die Abwehr mit Ramelow, Ziege, selbst Nowotny weniger fehlerbehaftet wäre, glaubt nicht mal der Weihnachtsmann. Der Schalker Jörg Böhme zum Beispiel stand diesmal sogar in der Defensive exzellent, und es war kein Zufall, dass Clarence Seedorf just nach Böhmes Abgang erstmals rechts durchkam und zum 3:1 flankte.
Wo also steht das deutsche Team am Ende des „tollen Jahres 2002“ (Völler)? Antwort: Mittendrin. Und die Zukunft? Auch diese sieht der Teamchef klar: „Im neuen Jahr wird wieder angegriffen.“ Jancker sei Dank.
Deutschland: Kahn - Frings, Rehmer, Baumann, Friedrich - Schneider, Jeremies (46. Kehl), Ballack, Böhme (77. Neuville) - Bobic (68. Asamoah), Klose (46. Freier)Niederlande: Van der Sar - Ricksen, Stam, Frank de Boer (46. Reiziger), Zenden - Seedorf, Bosvelt, Cocu (46. Van der Vaart), Davids - Makaay (65. Hasselbaink), Kluivert (46. Van Nistelrooy) Zuschauer: 60.597; Tore: 0:1 Kluivert (22.), 1:1 Bobic (34.), 1:2 Hasselbaink (69.), 1:3 Van Nistelrooy (79.)
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