„Da war alles still“

Die Jugendlichen, die die Knochen fanden, sollen psychologische Hilfe bekommen

aus Potzlow BARBARA
BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA

Sie sitzen im Wohnzimmer und versuchen zu verstehen. Auf der Schrankwand stehen die Fotos der älteren Tochter, der Enkelin und der beiden Söhne. Die Söhne. Wie kann es sein, dass sie so was gemacht haben? Dass sie es so lange mit sich herumgetragen haben? Die Eltern finden keine Antworten. Der Vater hält sich die Hände vors Gesicht. „Es tut uns so leid“, sagt er. „Ein Menschenleben kannst du nicht wiederholen.“

Seit dem Wochenende bekommen sie anonyme Anrufe. Seit im brandenburgischen Potzlow und Umgebung bekannt wurde, dass ihre Söhne am 12. Juli den 16-jährigen Marinus getötet und verscharrt haben sollen. „Die Einzelheiten sind so grausam, dass ich sie auch nicht ansatzweise schildern kann“, hat der Staatsanwalt darüber gesagt. „Es war viehisch.“ Deshalb bekommen sie die Anrufe, die Eltern des 23-jährigen Marco und des 17-jährigen Marcel, die nun zusammen mit einem weiteren 17-Jährigen in Haft sitzen. Die Eltern werden als „Mörder“ beschimpft, und gute Bekannte bitten um Verständnis, dass sie nichts mehr mit ihnen zu tun haben wollen.

Sie wollen aber reden. Also haben sie das Gesprächsangebot von Lothar Priewe angenommen. Priewe ist ehrenamtlicher Mitarbeiter des Arbeitskreises des Ausländerbeauftragten der Uckermark und kennt die Familie, seitdem der ältere Sohn zuletzt vor Gericht stand. Ende Oktober hat das Amtsgericht Prenzlau Marco zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt, nachdem er Mitte August, vier Wochen nach Marinus’ Tod, zusammen mit drei anderen Rechten in Prenzlau einen Afrikaner zusammengeschlagen hatte. Priewe erinnert sich noch, wie teilnahmslos Marco das Urteil entgegennahm, wie sich Marcel über das Urteil empörte. Die Eltern haben Priewe gesagt, dass sie einverstanden sind, wenn er eine Journalistin mibringt.

Was am 12. Juli auf ihrem Grundstück passierte, wissen sie nicht. Die Mutter war im Krankenhaus, und der Vater besuchte sie. Er erzählt, dass Marco an diesem Tag mit einem rechtsradikalen Kumpel gekommen sei, den er nicht im Haus hatte haben wollen. Deshalb hätten sie im Garten, neben dem Vogelhaus mit seinen Zuchttauben, ein Zelt aufgestellt. Ob das Martyrium von Marinus drinnen im Haus oder draußen im Garten seinen Anfang nahm, weiß er nicht. Er kam an diesem Tag erst abends nach Hause. „Da war alles still.“

Er und seine Frau kannten das Opfer. Als sie eine Zeit lang einen kleinen Getränkehof betrieben, sei Marinus öfters zum Limonadekaufen gekommen. Sie weinen, der Vater sagt: „Wir machen uns solche Vorwürfe, für die Familie von Marinus ist es ja noch viel schlimmer.“

Beim Erzählen fällt dem Vater auf, dass Marinus am selben Tag geboren ist wie er. Es wird ihm bewusst, dass sein Geburtstag von nun an kein Tag mehr zum Feiern sein wird. Er schweigt.

„Wir haben unsere Söhne doch nicht als Mörder erzogen“, unterbricht seine Frau das Schweigen. Sie versucht, die Tränen zurückzuhalten, sie sagt, dass sie Angst hat, einen Nervenzusammenbruch zu erleiden. Als sich der Mann ihrer Tochter vor einiger Zeit das Leben genommen hat, haben sie die etwa zwölfjährige Enkeltochter zu sich genommen. Sie haben ihr nun gesagt, „dass ihre Onkel Mörder sind“, um sie auf Bemerkungen in der Schule vorzubereiten.

Ja, der Marco habe „schon immer Probleme gemacht und eine rechte Orientierung gehabt“, sagt die Mutter mit einer Stimme, die so schwach klingt, wie wohl auch ihr Widerstand war. Sie erzählt, wie er sich „Rot Front verrecke“ aufs Bein habe tätowieren lassen, von der Reichskriegsflagge in seinem Zimmer, Lonsdale-T-Shirts und Springerstiefeln. „Man kommt nicht dagegen an“, sagt sie. Die Eltern geben zu, dass sie mit der Erziehung ihres älteren Sohnes überfordert waren. Mitte der Neunzigerjahre, er hatte gerade mal die siebte Klasse abgeschlossen, gaben sie ihn in eine betreute Wohngemeinschaft. Aber er änderte sich nicht. Zaghaft sucht die Mutter nach Erklärungen. „Der Marco hat all seine Straftaten unter Alkohol begangen. Warum wurde er nie zu einer Therapie verdonnert?“, fragt sie unsicher. „Er braucht ganz dringend Hilfe.“

Als sie von ihrem jüngeren Sohn erzählt, ist auf ihrem Gesicht die Andeutung eines Lächelns zu sehen. Der sei hilfsbereit gewesen, habe bunt gefärbte Haare gehabt, manchmal gekifft. Er habe immerhin die neunte Klasse geschafft und durch ein Förderjahr „die Kurve gekriegt“. Bis sein Bruder aus dem Gefängnis kam. Da war Saufen statt Kiffen angesagt, kurze statt bunte Haare. Die 43-jährige Mutter, die seit einer schweren Operation vor zwei Jahren Erwerbsminderungsrente bezieht und vorher als Küchenhilfe gearbeitet hat, erzählt, was auch Jugendliche im Ort berichten: dass Marcel unter dem Druck seines Bruders stand und wie ausgewechselt war, wenn dieser zu Hause war. Als Marco im Oktober wieder ins Gefängnis kam, habe sich Marcel verändert. Er sei in einem Moment aggressiv und im nächsten sehr sensibel gewesen. „Manchmal weinte er in seinem Zimmer“, sagt die Mutter. Verstanden hat sie das damals nicht.

Potzlow ist klein. Knapp 600 Einwohner. Vom Einfamilienhaus, in dem die Eltern der nun des Mordes Verdächtigen wohnen, kann man die ehemalige Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft sehen. Dort soll es passiert sein. Lange Silos, verfallene Ställe, ausrangierte Fuhrwerke und Anhänger stehen auf dem Gelände. Hinter einer üppigen Brombeerhecke rostet ein grüner Bauwagen. Im Innern liegen Müll, Zigarettenkippen und Fetzen alter Auslegeware. An den Wänden und der Decke herrscht eine seltsame Ordnung: In geraden Reihen sind Dutzende von leeren Zigarettenschachteln und Unmengen von Kronkorken befestigt. Ein an die Wand geklebtes, mit dem Computer beschriebenes Blatt Papier trägt die Überschrift „Hüttenordnung“: „Wer in die Hütte kotzt, muss es auch wieder selbst sauber machen“, heißt es. Oder: „Wer Alk verschüttet, muss neuen besorgen“, und: „Wer ficken will, geht nach draußen“.

Marinus hat sich in dem Bauwagen mit Kumpels getroffen und auch hin und wieder dort übernachtet. Bis vor einem Jahr lebte er mit seinen Eltern und Geschwistern in Potzlow. Nachdem die Familie ins nur einige Kilometer entfernte Gerswald umgezogen war, kam er weiter oft in sein altes Dorf.

Marinus’ Knochen wurden in der stillgelegten Jauchegrube des ehemaligen Agrarbetriebs gefunden. Seine Eltern vermissten ihn seit dem 12. Juli. „Aus der elterlichen Wohnung abgängig“, heißt das in der Polizeisprache. Marinus hatte Sprachhemmungen und Lese- und Schreibschwächen, er besuchte eine Förderschule in Templin. Er blieb manchmal einige Tage von zu Hause weg, und so waren die Eltern zuerst nicht beunruhigt. Erst zehn Tage später erstatteten sie Vermisstenanzeige. Drei Mal gab die Polizei Fahndungsmeldungen mit Foto und Personenbeschreibung heraus. Die letzte am 3. September, einen Tag vor Marinus’ 17. Geburtstag.

Jetzt erinnert ein Pappkarton mit abgebrannten Kerzen wenige Meter neben dem Bauwagen an ihn. Kinder und Jugendliche haben ihn aufgestellt. In ungelenker Schrift steht darauf: „Lieber Marinus, Du warst unser bester Freund. Wir werden Dich vermissen.“

Die Eltern sind ratlos: „Wir haben unsere Söhne doch nicht als Mörder erzogen“

Am Dienstagabend hat das Amtsgericht Prenzlau die Haftbefehle gegen Marco, Marcel und seinen Kumpel wegen des Verdachts des gemeinschaftlichen Mordes aus niederen Beweggründen erlassen. Die beiden Jüngeren haben inzwischen gestanden, Marco nicht. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft hörten sie an jenem 12. Juli Musik und tranken mehrere Kästen Bier. Auf dem Grundstück von Marcos und Marcels Eltern und an einem anderen noch nicht ermittelten Ort. Sie hätten sich über Marinus’ weit geschnittene HipHopper-Hose und seine blond gefärbten Haare aufgeregt, ihn als „Jude“ beschimpft und geschlagen. Dann hätten sie ihn gezwungen, auf das Gelände der Produktionsgenossenschaft mitzukommen, ihn dort gequält und getreten, bis er sich nicht mehr rührte, und ihn dann in der stillgelegten Jauchegrube vergraben.

Wenige Kilometer von Potzlow entfernt liegt Strehlow. Peter Feike, 54 Jahre alt, ist Koordinator des dortigen Jugendzentrums und zugleich Bürgermeister der Großgemeinde Oberuckersee, zu der auch Potzlow gehört. Jugendliche haben ihm berichtet, wie Marcel im Jugendclub einigen anderen von Marinus’ Schicksal erzählte, als das Gespräch auf den bereits seit vier Monaten Vermissten kam. Marcel habe gesagt, er liege tot in der Jauchegrube. Weil die anderen ihm nicht glaubten, führte sie Marcel gegen Mitternacht zu der Stelle. Er holte noch von zu Hause eine Taschenlampe und eine Axt, um den Körper zu finden und freizulegen.

Die Jugendlichen waren geschockt. Sie verrieten weder ihren Eltern noch der Polizei, noch den Sozialarbeitern vom Jugendclub etwas von dem grausigen Fund. Sie erzählten es anderen Jugendlichen weiter. Auch die wollten es nicht glauben. Aber als sie ebenfalls Skelettteile fanden, informierten sie anonym die Polizei. Sie hatten Angst, weil das Betreten des Geländes verboten ist. Marcel sagte seinen Eltern weiter nichts. Die erfuhren am Sonntagabend am Telefon, dass ihr Sohn festgenommen wurde.

„Er konnte wohl nicht länger damit leben“, sagt der Koordinator des Jugendzentrums. Er kennt Marcel seit dem Sommer, als er wegen eines Diebstahls in dem Jugendclub 60 Stunden Sozialarbeit ableisten musste. Zu der Zeit war Marinus schon tot. Peter Feike ist fassungslos. „Ich gehe nicht davon aus, dass er wie ein eiskalter Mörder gestrickt ist. Der war seinem Bruder hörig.“

Feike hat Mitarbeiter des Mobilen Beratungsteams der Opferhilfe aus Potsdam um Unterstützung gebeten, damit die Jugendlichen, die das gefunden haben, was von Marinus übrig geblieben ist, psychologische Hilfe bekommen. Die Lehrer an der Förderschule, die das Opfer besuchte, wurden ermahnt, stärker darauf zu achten, mit wem die lernbehinderten Schülerinnen und Schüler Kontakt haben. Marinus hätte das nichts genützt. Er kannte seine Mörder.