Nathan im/-possible

Der Kurs „Darstellendes Spiel“ bearbeitete Lessings „Nathan“ für eine aktuelle Frage: Gehört es sich, die führende Weltmacht nicht zu kritisieren nach dem, was die USA für Deutschland getan haben?

Als wir uns einen Tag nach dem Anschlag auf das World Trade Center in New York zum Darstellenden Spiel versammelten, brach eine heftige Diskussion aus. Es kam sogar fast zum Streit, da ein Schüler der GyO am SZ Walliser Straße, dessen Vater US-Amerikaner ist, eine recht pro-amerikanische Stellung bezog und eine andere Schülerin sehr für die Arabische Welt argumentierte. Alle waren jedoch von dem Attentat sehr betroffen. Es wurde nach Gründen gesucht und gefragt, wie Menschen im Stande sein konnten im Namen Gottes so eine grausame Tat zu begehen.

Wir wollten ein Stück spielen, das den Zuschauer zum differenzierten Nachdenken anregt und haben uns für das Stück „Nathan der Weise“ von Ephraim Lessing entschieden, um den Glaubenskonflikt darzustellen und zu zeigen, wie aktuell dieses etwa 200 Jahre alte Stück doch ist. Unser Lehrer Holger Möller war eine Art Moderator, der darauf aufpasste, dass der rote Faden nicht verloren ging und die zentrale Aussage des Stückes immer sichtbar war.

Jeder der Schüler, der eine gute Idee hatte, konnte diese ins Stück einbauen. In unserer Gruppe sind außer den Juden „echte“ Christen und Muslime. Beim Erarbeiten des Stückes kam es einmal zu einem Problem. Als nämlich die Schüler Glaubensangehörige darstellen sollten, die durch ein immer schnelleres Beten sich auf den Kampf der Religionen vorbereiteten, fanden einige, dass sie dadurch ihren Glauben in Verruf bringen könnten. So wurde das Konzept schnell aufgegeben. Am Ende kam die Gruppe zu einem provozierenden und dennoch sehr akzeptierten Ergebnis.

Die Form unseres Stückes ist recht modern. Die Schauspieler gehen fast zu keinem Zeitpunkt von der Bühne. Jeder Schauspieler ist in weiß angezogen. Die Schüler, die eine „Kippa“ aufhaben, stellen die Juden dar, Schüler, die die Christen spielen, haben ein Kreuz um den Hals gehängt und Schüler, die die Moslems spielen, tragen die für den Islam typische Kopfbedeckung. Die jeweiligen Rollen werden außerdem abwechselnd von verschiedenen Personen dargestellt.

„Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien...“ (Matthäus-Evangelium10, 34-39)

Um ein Gefühl für die Zeit zu bekommen, in der das Stück spielt, befassten wir uns näher mit der Geschichte und Religion und suchten Ursachen für den Hass, der immer wieder zwischen den drei Weltreligionen auftaucht. Wir beschäftigten uns mit dem Koran, dem Alten Testament und dem Neuen Testament und fanden neben Aussagen, die Liebe und Frieden verkörpern, auch Aussagen voller Hass und Gewalt, bei denen das friedliche Miteinander und die Toleranz wie vom Erdboden verschwunden scheinen. Das originale Stück „Nathan der Weise“ spielt in Jerusalem, das von Sultan Saladin beherrscht und zugleich von den christlichen Tempelherren beansprucht wird. Die Ringparabel ist das Herzstück der klassischen Aufführung.

In unserer Fassung des Stückes wird außer dem Kampf der Religionen auch die Wirkung unserer „zivilisierten“ Welt auf die Arabische Welt veranschaulicht. Besonders die USA, die in unserem Stück kritisiert werden, verkünden gebetsmühlenartig ihren „American Way of Life“, die einzig wahre Lebensweise, als vierte Religion und drücken ihn der Welt auf. Die von Geld und käuflicher Liebe bestimmte verwerfliche Lebensweise, die die Arabische Welt als pure Sünde aufnimmt, stellen die Schauspieler durch sich küssende Lesben, Drogen und Alkohol konsumierende und Geld wegschmeißende Personen dar. In unserem Stück wird außerdem der übertriebene Patriotismus der Amerikaner dargestellt, indem ein zwei Meter großer Uncle Sam sich in einer Rede an die amerikanische Nation wendet. Doch auch in der Realität hält Präsident Busch Reden, die immer mit dem Satz: „God bless America“ enden. Gilt dieser Schutz durch Gott eigentlich nur der amerikanischen Bevölkerung? Es kommt überdies zur Konfrontation der westlichen Welt mit der Dritten Welt, die von Arundhati Roy, einer indischen Schriftstellerin, vertreten wird. Sie erinnert an die Kriege, die diesen Ländern das Leid brachten. Auch Lessing selbst erscheint auf der Bühne und fängt an mit Arundhati Roy zu diskutieren. Er hält eine sehr kritische Rede, bis er schließlich verlangt, dass „Nathan der Weise“ auf allen Bühnen dieser Erde gespielt werden soll, um den Hass, Ungerechtigkeit und das sinnlose Töten zu überwinden.

Am Ende unseres Stückes holt sich der verzweifelte Tempelherr beim Patriarchen Jerusalems Rat ein und schildert hypothetisch den Fall Nathans. Doch da der Patriarch ihm erzählt, dass solch ein Jude auf den Scheiterhaufen gehört, ist der Tempelherr entsetzt. Solch eine Antwort wollte er nicht hören. Er scheint mit sich solange innerlich zu kämpfen, bis ihn Lessing auffordert mit ihm zu kommen. Ein Weg in die Resignation? Zu allerletzt erscheint auch noch Arundhati Roy, die Stimme der Dritten Welt, die will, dass der Tempelherr mit ihr kommt. Der Tempelherr muss sich nun entscheiden, doch bevor er das tut, erlöschen die Scheinwerfer und das Stück ist zu Ende. Wir haben uns bewusst für dieses offene Ende entschieden, weil unsere Gruppe sich darüber nicht einig war, aber auch um die Antwort auf diese Frage dem Zuschauer zu überlassen.

Nathan im/-possible haben wir beim Landes-Schultheater-Treffen im Schauspielhaus und im Rahmen der offiziellen Gedenkveranstaltung des Bremer Senats zum 11. September im Rathaus aufgeführt. Auch auf der Nacht der Jugend am 06. November 2002 spielten wir das Stück. Mit dem Stück haben wir recht viel Erfolg gehabt, da wir durch dieses provokante Stück für Diskussionstoff sorgten.

Selbst der Schüler mit dem US-amerikanischen Verwandten hat im Laufe der Arbeit an diesem Stück eine sehr kritische Einstellung zu dem Thema entwickelt. Wir sind jedoch keineswegs Antiamerikaner! Doch wir fragen uns, ob man heutzutage die USA eigentlich nicht mehr in der Öffentlichkeit kritisieren darf?

Wer einen Menschen im Namen Gottes tötet und sich bei der Tat auf seine Religion stützt und die Gewalttat so legitimiert, der kann kein gläubiger Mensch sein. Menschen, die keinen Ausweg mehr sehen, lassen sich verblenden, verführen und zum Hass verleiten. Sie fangen an zu glauben, dass sie für solch einen Mord von Gott belohnt werden. Doch diese Menschen machen sich dadurch selbst zu Ungläubigen. Wir verurteilen den Mord an über 3.000 Menschen in New York abgrundtief. Dafür gibt es weder eine Rechtfertigung noch eine Entschuldigung. Doch wir wollen auch an andere Opfer in der Welt erinnern. Hält man eine Schweigeminute, wenn jeden Tag etwa 24.000 Menschen in der Welt an Hunger sterben?

Nein, denn diese Bilder erscheinen täglich und haben uns bereits abgestumpft. Es ist Zeit, dass wir für solche Fragen und Schicksale sensibilisiert werden.

   
Philipp Schmidt