Die unheimlichen Hände

Nachrichten aus dem Jenseits: In dem Stummfilm „Orlacs Hände“ (1924) entwickeln Gliedmaßen ein eigenes Leben

Hypnosetechniken, systemische Familienaufstellung und selbst induzierte Trance werden mittlerweile bei Drehbuch-Workshops angewendet. Der mechanistische Plotpoint-Imperativ soll mit Herz und Seele gefüllt werden. Dafür bietet der große, nicht ganz billige Markt der kleinen Fluchten so erfolgversprechende Seminare wie „Hypnotic Scriptwriting“ an. Ein ambitionierter Drehbuchautor weist auf die abschöpfbaren Ressourcen hin: „Allnächtlich produziert Ihr Unbewusstes drei, vier glänzende Filmplots – im Traum.“

Der frühe Film hat den Kontakt zum Unbewussten, zur Halluzination und zum Paranoiden sehr viel unverblümter herstellen können. Das immer noch ungewohnte technische Wunderwerk Kino mit all seinen Möglichkeiten von Licht und Schatten, von Hellem und Okkultem legte diese Sujets nahe. Wieweit diese „Schreckensgesichte“ (Siegfried Kracauer) mit dem unverdauten Horror des Ersten Weltkriegs, mit ökonomischen, somit existenziellen Unsicherheiten einhergingen, lässt sich bei dem 1924 in Wien entstandenen Film „Orlacs Hände“ von Robert Wiene nur spekulieren. Schon seit 1916 handeln die von Wiene verfilmten Drehbücher von Suggestionsexperimenten, Wahnsinn, Familienflüchen, psychischen Bedrängnissen aller Art und lebenden Toten.

„Liebste! Noch eine Nacht und ein Tag, und dann bin ich bei Dir … und ich werde fühlen, wie Dein Körper unter meinen Händen erzittert!“, schreibt der Pianist Orlac an seine Frau. Doch dazu kommt es nicht, ein Eisenbahnunglück, das grell blendend auf die Zuschauer im Kino einstürmt, zerstört die Hände des Virtuosen. Die Gattin stürzt dem Arzt halb ohnmächtig in die Arme und fleht ihn an, Orlacs Hände zu retten. Ein Leichenwagen bringt die sterblichen Überreste eines hingerichteten Mörders; dessen Hände werden transplantiert. Schon auf dem Krankenbett bekommt der Genesende eine Nachricht aus dem Jenseits: Der Kopf des Mörders (Fritz Kortner) grinst ihn mit schiefem Mund an.

Von nun an zerren die fremden Hände den von Conrad Veidt exzessiv gespielten Orlac von einer Phantomempfindung zur nächsten: Der Ehering passt nicht mehr, schon wagt er es nicht, seine Frau zu berühren, mit gekrümmten Fingern schreckt er vor den Tasten des Klaviers zurück. Auf dem Boden kriechend, versucht das Dienstmädchen, ihn zu verführen: „Ihre Hände tun weh wie Mörderhände!“, schreit sie auf, als seine großen Hände ihre Schädeldecke umgreifen. Bis zum vermeintlichen Vatermord in grob gotischen Gemächern, bis zum finanziellen Ruin, bis zur Erpressung, zum Haftbefehl steigert sich der Schrecken.

„Jungfrauen von 8–80, die ein klein wenig von der Hysterie angestochen sind, haben IHM in ihrem mehr oder weniger weiten Busen einen Altar errichtet, für blass aussehende Jünglinge ist ER überhaupt der personifizierte Lebenszweck. […] Übt fleißig, Ihr Jünglinge, und vergesst vor allem SEINE Stirnadern nicht, die so herrlich crescendo und decrescendo machen können!“, schrieb eine Filmzeitschrift 1922 über Conrad Veidt.

Die vom Körper abgetrennte und selbstständig agierende Hand hat sich in vielen Metamorphosen durch die Filmgeschichte gehangelt: So gab es schon 1935 ein amerikanisches Remake, „Mad Love“ mit Peter Lorre als besessenem Arzt, 1946 kämpfte wiederum Peter Lorre mit „The Beast with five Fingers“, das die Fingerfertigkeit eines Pianisten besitzt und den Menschen schon mal an die Kehle geht, und auch Oliver Stone versuchte sich in „The Hand“ 1981 mit einer unheimlichen Hand.

MADELEINE BERNSTORFF

„Orlacs Hände“, mit Klavierbegleitung, Filmkunsthaus Babylon, So., 19 Uhr