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: Charlotte von Mahlsdorf liest ihre Autobiografie

Mütterliche Sammelwut

Im letzten Frühling starb Charlotte von Mahlsdorf, mit bürgerlichem Namen Lothar Berfelde und eine der Ikonen der deutschen Schwulenbewegung, im Alter von 74 Jahren. Womöglich hätte man das traurige Ereignis unter dem Gesichtspunkt des Ikonenverlusts eher unterschätzt (Guido Westerwelle u. v. a. bleiben der Bewegung ja vorerst erhalten), wenn Charlotte von Mahlsdorf nicht noch zwei Tage vor ihrem Tod, also gleichsam in letzter Sekunde, ihre Autobiografie „Ich bin meine eigene Frau“ für ein Berliner Tonstudio eingelesen hätte. So hat man es nun mit einer Art akustischem Testament zu tun, das einen völlig unerwartet fesselt.

Vom ersten Satz an steht zum Beispiel fest, dass hier zwar kein – wie Mahlsdorfs Lektor Peter Süß es formuliert – „Fleisch gewordenes Gründerzeitmöbel“ erzählt, doch unüberhörbar ein ausgesprochen höflicher Mensch aus dem verblichenen Preußen. Wer noch eine „Kind, sprich deutlich!“-Großmutter hatte, weiß, wovon die Rede ist: Bei Charlotte von Mahlsdorf gibt es keine schlampig verschliffenen Endsilben, kein Drüberweggenuschel, keine unterschlagenen Satzzeichen. Sondern Akkuratesse, Gründlichkeit und aufrechtes Rückgrat, einen Hauch zu steif vielleicht. Ernst und sicher, mit leichter, geschlechtsneutralisierender Heiserkeit liest sie aus ihren Memoiren, dem scheinbar einfältigen Duktus der Märchentante nicht abgeneigt.

Kein Wunder. Charlotte von Mahlsdorfs eigener, tragischer Familiengeschichte und der noch tragischeren der beiden deutschen Diktaturen eignet etwas Unglaubliches, Ungeheures. Ihre erste, unschuldige Liebe gilt einem jüdischen Jungen, der eines Tages deportiert wird; später erschlägt sie, noch minderjährig, ihren gewalttätigen, die ganze Familie terrorisierenden Vater und sitzt dafür dank guter Führung und einer 1945-Amnestie nicht allzu lange im Tegeler Knast.

Zeit ihres Lebens sammelte Charlotte von Mahlsdorf besessen Möbel und Gebrauchsgegenstände aus der Gründerzeit. Tausende von Edison-Phonographen und Kaminuhren, zahllose Nähmaschinen und Stühle rettete sie vor Ramsch und Verfall, ja ganze Gebäude wie das Gutshaus in Mahlsdorf, aus dem sie dreieinhalb Jahre lang Schutt schippte, das ihr Museum und „Schicksal“ wurde und um das sie zermürbende Kämpfe gegen raffgierige realsozialistische Behörden ausfocht. In dessen Keller verfrachtete Charlotte auch die komplette Inneneinrichtung der Altberliner Scheunenviertel-Kneipe „Mulack-Ritze“, in den Zwanzigern ein sensationell „doller Laden“ und noch bis in die spießige DDR hinein von Prostituierten, Homosexuellen und der SM-Szene frequentiert, bevor er Anfang der 60er einer Massenkneipenschließung zum Opfer fällt.

Dass ihr Spleen wohl kurz vor Wahnsinn stand, ahnt man, wenn Mahlsdorf ihre Entlassung aus dem Knast direkt in einen Bombenhagel beschreibt: Anstatt ihr Leben in Sicherheit zu bringen, rettete die 16-Jährige lieber Kommodenaufsätze. Ein Hauch von mütterlicher Hysterie schleicht sich in ihre Stimme, wenn sie ihre irrwitzigen Rettungsaktionen rechtfertigt, und ein Hauch von mütterlicher Nachsicht, wenn sie vom Spott und den Schwierigkeiten berichtet, denen sie als schwuler Transvestit ausgesetzt war. Sowenig ihre Gier nach persönlichem Besitz trachtete, sondern nach idealistischem „Bewahren und Erhalten für die Nachwelt“, so wenig neigte ihr Transvestismus zum Aufgebrezelt-Ordinären. Charlotte von Mahlsdorf strebte nach gebügelten Schürzen und aufgeräumten Handtaschen, in Richtung bürgerliche Hausfrau, reinliches Dienstmädchen – also nach erzkonservativen Frauenrollen. Schwachsinniger Widerspruch? Oder Ideologie als Sex-Toy? Wenn auch um die wunderbare Charlotte ein Geheimnis bleibt: Letzteres ist doch überhaupt eine ganz vernünftige Lösung! EVA BEHRENDT

Charlotte von Mahlsdorf: „Ich bin meine eigene Frau“. 2 CDs, Kunstmann, München 2002, 24,90 €