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Wittgensteins Wollunterhose

„Nie mehr schlafen“ von Willem Frederik Hermans zählt in den Niederlanden zu den literarischen Klassikern. Nun gibt es seinen philosophischen Abenteuerroman endlich wieder auf Deutsch

von GUSTAV MECHLENBURG

Die Romane des niederländischen Literaten und Wittgenstein-Übersetzers Willem Frederik Hermans erteilen jeglicher Sinngebung und aller ethischen Bewertung der menschlichen Existenz eine zynische Absage. Seiner Meinung nach sind sie nichts als ideologische Verblendung.

Von einem Selbstbetrug fataler Art handelt Hermans’ im letzten Jahr erstmals auf Deutsch erschienener Roman „Die Dunkelkammer des Damokles“. Darin erzählt er grotesk und verstörend die Geschichte des holländischen Zigarrenhändlers Henri Osewoudt, der während des Zweiten Weltkriegs zur Marionette der deutschen Besatzer wird. Hermans stellte die bis dahin heroische Sicht auf die niederländische Widerstandsbewegung gründlich auf den Kopf.

Bis zu dieser von Kritikern und Lesern hoch gelobten Veröffentlichung war Hermans, der 1995 starb, in Deutschland nahezu unbekannt. 1921 geboren, begann er während des Zweiten Weltkriegs mit dem Schreiben. Nach dem Studium lehrte er Geologie an der Universität Groningen, von der er sich 1973 im Streit trennte, um sich in Paris und Brüssel ganz der Literatur zu widmen. Dass der international anerkannte Autor bislang in Deutschland kaum rezipiert wurde, ist dem von ihm selbst verhängten Übersetzungsverbot zu verdanken: Hermans’ Streitlust und Eitelkeit hätten selbst genug Stoff für eines seiner Bücher abgegeben.

Sein Roman „Nie mehr schlafen“ ist jetzt neu von Waltraud Hüsmert übersetzt worden. Das 1966 geschriebene Buch ist ein zeitloses philosophisches Traktat über die Absurdität menschlichen Strebens und wissenschaftlicher Sinnkonstrukte – und zugleich die Persiflage eines Abenteuerromans. Der holländische Geologiestudent Alfred Issendorf scheitert kläglich auf einer Expedition, bei der er Beweise für die Hypothese zu finden hofft, dass die Krater in der Finnmark nicht durch Gletscherschmelze, sondern durch Meteoriteneinschläge entstanden sind.

„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“: Wittgensteins These, dass es keine Privatsprache gibt, wird in Hermans’ Roman auf erstaunliche Weise konterkariert. In „Nie mehr schlafen“ begegnet uns mit der Hauptfigur eine menschliche Monade, deren private Empfindung, wenn sie auch nicht Teil eines Sprachspiels sein kann, literarisch doch vermittelbar erscheint.

Im Gegensatz zu der auf jede Introspektion verzichtenden Erzählweise in „Die Dunkelkammer des Damokles“ erfahren wir in „Nie mehr schlafen“ viel von den solipsistischen Gedankengängen der Hauptfigur. Auf faszinierende Weise vermag es Hermans dabei, dem Leser die Unstimmigkeiten in Alfreds Gedankenwelt aufzuzeigen, ohne mehr Informationen preiszugeben, als der Hauptfigur selbst zur Verfügung steht. Zu sehr in seiner eigenen Welt gefangen, kommt es bei ihm zu paranoiden Zwangsvorstellungen. Er wittert eine Verschwörung, als ihm die für seine Expedition benötigten Luftaufnahmen vorenthalten werden. Voll verzweifelter Ruhmessucht hat der Forscher in Gedanken das Mineral schon „Issendorfit“ benannt, das er zu entdecken sucht und mit dem er die Karriere vollenden will, die seinem Vater versagt blieb. Alfreds maßlose Selbstüberschätzung weicht im Laufe der Exkursion zunehmend einem erdrückenden Selbstzweifel.

Übernimmt Alfred die in Hermans’ Büchern typische Figur des farblosen Antihelden, steht sein Freund und Expeditionsgefährte Arne für die klarsichtige Heldenfigur. In seinem Auftreten und seinen Gedanken erinnert Arne stark an den von ihm bewunderten Wittgenstein. Die Kenntnis seiner Schriften verleiht ihm die Distanz zu den Dingen und seinem eigenen Tun, die seinem Freund so reichlich fehlt. So hat er beispielsweise kein Problem damit, die Geologie selbst mit Mythologie gleichzusetzen, denn „die Tatsachen gehören alle nur zur Aufgabe, nicht zur Lösung. Nicht ‚wie‘ die Welt ist, ist das Mystische, sondern ‚dass‘ sie ist“, zitiert er den Philosophen.

Neben den spannenden Diskussionen, die sich aus den unterschiedlichen Denkweisen der beiden jungen Männer ergeben, lebt der Roman vor allem von den intelligent-witzigen Assoziationen, die dem Protagonisten Alfred während der langen, schweigsamen Wanderungen durch das karge Gelände kommen. In den Tagebüchern von Amundsen und Scott beim Wettlauf zum Südpol beispielsweise vermisst er eine gewisse Aufrichtigkeit. „Die meisten Leute schreiben nie genau, was sie denken. Nicht: Meine halb vereiste Wollunterhose stinkt wie die Pest. Oder bei 50 Grad minus steht unser Urin aufrecht im Schnee wie ein Schilfrohr aus gelbem Glas.“

In diesen geistreichen Passagen scheint bei Alfred eine unerwartete Klarsichtigkeit bezüglich der Absurdität menschlichen Tuns auf. Doch fehlt ihm die Größe, aus diesen Erkenntnissen Konsequenzen für sein eigenes Leben zu ziehen. Erst als die Expedition ein katastrophales Ende nimmt, bei dem sein Freund Arne ums Leben kommt – und deshalb „nie mehr schlafen“ wird –, begreift er, dass er mit seinem selbstsüchtigen Forschungsvorhaben am Ende ist. Umso zynischer von Hermans, Alfred bei seiner Rückfahrt Manschettenknöpfe aus Meteoritengestein bereitzulegen.

Hermans ist bekannt für sein „sadistisches Universum“, in dem er seinen Figuren keine Chance zum Ausbruch gönnt. Doch oftmals sind die größten Nihilisten auch die größten Moralisten. Nicht umsonst ist die Hauptfigur so sympathisch gezeichnet, dass der Leser nicht umhinkommt, das Scheitern der Expedition wie die Denkschwächen Alfreds auch auf sich selbst zu beziehen.

Der Gustav Kiepenheuer Verlag hat die Herausgabe weiterer Werke des großen Realisten und scharfsinnigen Denkers angekündigt. Der Kampf gegen die Verblendung wird damit fortgesetzt.

Willem Frederik Hermans: „Nie mehr schlafen“. Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert. G. Kiepenheuer, Leipzig 2002, 360 Seiten, 20 €

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