Sanela wurde nicht gefragt

Es gibt Migrantenfamilien, in denen nur das Gesetz des Vaters gilt. Es wird geheiratet, ob die Tochter will oder nicht. Oft wissen die jungen Frauen nicht, an wen sie sich dann wenden können. Terre des Femmes startet Kampagne für bessere Hilfsangebote

von HEIDE OESTREICH

Sanela* war 14, als es der Mutter langte mit der Frühreife ihrer Tochter. Schließlich war man nicht daheim, in Bosnien, sondern in Berlin. Anfechtungen und lockere Sitten überall, wie soll man da auf die Tochter aufpassen? Bei der Hochzeit der Cousine musste Sanela also vortanzen, auf dass sich ein Mann für sie interessiere. Als sich tatsächlich einer meldete, jubelten die Eltern: Die Ehre war gerettet, Sanela unter der Haube. Der kleine Haken: Sie hatten Sanela nicht gefragt. Sanela aber hat bereits einen Freund. Heimlich, natürlich, damit sie nicht als „Schlampe“ gilt. Was nun?

Sanela wird verheiratet, zur Schule soll sie nicht mehr gehen, sich stattdessen in der neuen Familie „einleben“. Sanela haut ab, zu ihren Eltern. Die schicken das ungehorsame Kind wieder zurück. Doch als sie in der Schule nicht mehr auftaucht, machen die Lehrer Ärger. Eines Tages steht die Polizei vor der Tür und nimmt Sanela mit. Es gibt doch einen Ort, an den sie gehen kann: Ein Wohnheim für junge Migrantinnen, betrieben von der Kriseneinrichtung „Papatya“. Hier sind andere Mädchen, denen Ähnliches passiert ist, hier kann sie in Ruhe ihre Scheidung und ihre Zukunft planen – und vorsichtig wieder Kontakt mit dem Eltern aufnehmen.

Es gibt viele Migrantinnen aus Kulturkreisen, in denen arrangierte Ehen üblich sind. Auch unter den türkischen MigrantInnen ist es nicht ungewöhnlich, dass in der eigenen Community geheiratet werden soll. Wenn dies gegen den Willen der Kinder geschieht, ist die Not groß. Oft weiß das Mädchen dann nicht, wohin: Ganze vier Einrichtungen gibt es laut Terre des Femmes in Deutschland. Keine in München etwa und keine im Ruhrgebiet.

Gestern, am Tag gegen Gewalt an Frauen, startete die Hilfsorganisation Terre des Femmes eine Kampagne, mit der sie Lehrer, Jugendämter und die Öffentlichkeit aufmerksamer machen will: Warum kommt Dilek so oft nicht zur Schule? Reicht es aus, dem Mädchen, das verwirrt im Jugendamt steht und von Heirat redet, gut zuzureden? Und was kann man tun, wenn klar ist, das Kind will diesen Mann nicht heiraten? „Wenn es keine Kriseneinrichtung gibt, kann man den Mädchen nichts anbieten“, fasst Rahel Volz von Terre des Femmes zusammen, „Man kann nicht sagen, du musst dich wehren – und dann keine Wohnung haben, wenn es hart auf hart kommt“.

Terre des Femmes sammelt Unterschriften für mehr Kriseneinrichtungen und will ab März Fortbildungen und Unterrichtsmaterial für LehrerInnen anbieten. Für die Mitarbeiterinnen von Papatya ist das ein Anfang: „Am besten wäre es, die Eltern zu erreichen, etwa über die türkischen Medien.“ Vielen Eltern sei gar nicht klar, dass die Tochter die geplante Ehe nicht will. „Die Mädchen sagen oft aus Angst nichts“, so eine Mitarbeiterin. In den eher bildungsfernen Familien ihrer Klientinnen werde oft nicht viel geredet. Zudem sei es normal, dass man sich dem Vater nicht widersetze. „Der bringt mich um“, glauben die Mädchen schnell. Denn ihre ordentliche Verheiratung rettet die Familienehre, eine Unverheiratete, die eventuell auch noch mit Jungen ausgeht, zerstört die Ehre. Ein Konzept, über das auch viele TürkInnen den Kopf schütteln, doch existiert es bei vielen Familien. Oft aber, so die Erfahrung bei Papatya, „fallen die Eltern aus allen Wolken“: Sie hätten gar nicht gewusst, dass das Kind nicht wolle, erzählen sie den Mitarbeiterinnen, die Kontakt zu ihnen aufnehmen. Natürlich werde die Verlobung gelöst, versprechen sie. Es gibt aber auch harte Fälle von Eltern ohne Einsehen. Denen kann das Jugendamt das Sorgerecht entziehen. Wehe, wenn es dann keine Unterkunft und kein Krisennetzwerk gibt.

* Name geändert