Tödliche Passivität der Hierarchie

Dänische Medien bezweifeln, dass lediglich eigenmächtig handelnde Soldatenfür das Sprengstoffunglück in Kabul vom vergangenen März verantwortlich sind

KOPENHAGEN taz ■ Grobe Fehler von militärischen Sprengstoffexperten, die Befehle ignorierten, weil sie den Flugkörper für Ausbildungszwecke intakt halten wollten und versuchten, nur den Sprengstoff zu entfernen: Das ist das Fazit des in Deutschland unter Verschluss gehaltenen, in Dänemark aber einigen Zeitungen bekannt gewordenen Abschlussberichts des Untersuchungsausschusses über das Sprengstoffunglück in Kabul, das am 6. März zwei deutsche und drei dänische Soldaten tötete.

Es habe „keinen Befehl des deutschen Verteidigungsministeriums, des Heeresoberkommandos, deutscher oder dänischer Behörden gegeben, ein Trainingsmodell zu beschaffen“. Nicht die Befehlsebene sei verantwortlich, sondern die Soldaten vor Ort, die sich nicht an Vorschriften hielten. Dieses Fazit stellen dänische Medien nach Eigenrecherchen in Frage. Offenbar war der Versuch, eine „Ausbildungsrakete“ zu sichern, tagelang vorher offen diskutiert worden und Offizieren weit oben in der Befehlshierarchie bekannt. „Die Frage nach der offenbaren Passivität der Befehlsebene stellt sich“, schreibt die dänische Tageszeitung Jyllands-Posten.

Nach Informationen der Zeitung hatte die deutsch-dänische Munitionsentschärfungsgruppe (EOD) am 25. Februar formell den Auftrag erhalten, die fraglichen russischen Boden-Luft-Raketen zu entschärfen. Auf einem Treffen am 28. Februar sei klar geworden, dass zumindest der deutsche Teil der Gruppe Pläne diskutierte, das Projektil nicht zu vernichten, sondern nur den Sprengstoff zu entfernen.

Diese Pläne gelangten offenbar auch dem Oberkommando des Heeres und der Militärhochschule für Ingenieur- und ABC-Ausbildung in Dänemark zur Kenntnis. 24 Stunden vor dem Unfall wurde telefonisch zwischen Kopenhagen und Kabul diskutiert, ob das geplante Vorgehen zu verantworten sei. Beim Heeresoberkommando im dänischen Karup wurde beschlossen, in einem schriftlichen Befehl ausdrücklich an die Einhaltung aller Vorschriften zu erinnern. Das Papier kam jedoch nicht mehr rechtzeitig auf den Weg.

Am 5. März habe dann ein Offizier der deutschen EOD-Gruppe seinen dänischen Kollegen formell darüber informiert, dass seine Gruppe am kommenden Tag versuchen werde, nur den Sprengstoff zu entfernen. Die entsprechenden Informationen habe am gleichen Tag auch der britische Befehlshaber der 49. Entschärfungskompanie erhalten. Nach dem Unfall äußern mehrere vom Untersuchungsausschuss befragte deutsche und dänische Offiziere, Bedenken gehabt zu haben. Einen Versuch, diese gefährliche Vorgehensweise zu stoppen, hatte aber offenbar keine Seite gemacht.

In den dänischen Medien wird die Frage gestellt, ob nicht sogar die höchste Befehlsebene über das vorschrifts- und befehlswidrige Unterfangen informiert gewesen sei. So habe der Oberbefehlshaber der dänischen Truppe in Afghanistan Dancom, Lasse Harkjaer, einen Tag vor dem Unglück das für die Aktion geplante Gebiet besucht und gefragt: „Wisst ihr, was ihr macht?“ Worauf ihm ein dänischer Leutnant antwortete: „Das ist nicht schwieriger, als einen Motor aus einem VW-Bus auszubauen.“

Warum war niemand eingeschritten, fragt Jyllands-Posten, obwohl die Sicherheitsvorschriften beider beteiligter Armeen den Passus enthalte, dass jeder Soldat die Pflicht habe, bei „einem Bruch oder dem Versuch eines Bruchs“ von Sicherheitsbestimmungen einzuschreiten. Ein dänischer Soldat war offenbar der einzige, der warnte, aber von einem dänischen Obergefreiten abgekanzelt wurde. Dass sich der Soldat daraufhin beleidigt zu einer Zigarettenpause einige hundert Meter von den Raketen entfernte, rettete ihm das Leben.

REINHARD WOLFF