„Big Brother? – Hier nicht“

Strukturförderung der besonderen Art: Ab Januar wird die thüringische Kleinstadt Artern in einer Doku-Soap als „Stadt der Träume“ präsentiert. Der Bürgermeister hofft auf Tourismus und Gewerbe

Interview GUNNAR LEUE

Zwölf Orte wurden als „Stadt der Träume“ gecastet. Vorraussetzung: Hohe Arbeitslosigkeit. Gewonnen hat Artern. Endemol verspricht „eine echte Lindenstraße“, und außerdem könnten die Einwohner so „Ideen zur Stadtverbesserung“ entwickeln.

Wie haben Sie reagiert, als Artern den Zuschlag für die geplante Reality-Serie erhielt?

Wolfgang Koenen: Ich habe meine Sekretärin erst mal gefragt: Wer ist denn Endemol? Als sie sagte, na, die haben doch „Big Brother“ gemacht, da hatte ich schon ein bisschen Skepsis. Als die Herren dann kamen, habe ich denen auch gleich gesagt, so was wie „Big Brother“ möchten wir in Artern eigentlich nicht haben.

Aber das war ja eine andere Zielgruppe. Diesmal geht es nicht um junge Leute in einem Container, sondern um eine Stadt mit 6.800 Einwohnern. Wieso gerade Artern?

Es standen wohl mehrere Städte zur Auswahl. Sicher spielt eine Rolle, dass unsere Stadt und ihre Bürger nach der Wende einen gewaltigen Umbruch erlebt haben. Fast alle Industrie- und Bergbauarbeitsplätze hier sind weggebrochen. Heute ist der größte Arbeitgeber eine GmbH, die auf dem zweiten Arbeitsmarkt tätig ist. Wir hatten Anfang 1998 eine offizielle Arbeitslosenquote von 33 Prozent. Jetzt liegen wir bei 22 Prozent, es geht nur langsam aufwärts. Dass sich Endemol letztlich für Artern entschied, hängt damit auch zusammen, dass die ganz angetan waren, wie gut sich die Bürger hier vor der Kamera bewegten.

Bei den Testdrehs?

Ja. Die hatten erst mal ein Kamerateam losgeschickt und versucht, mit den Bürgern ins Gespräch zu kommen. Daraus wurde ein kleines Filmporträt über Artern. Das fanden wir sehr ansprechend, weil darin keine Klischees vorkamen, sondern es wurde einfach gesagt: Die Leute hier haben ihre Probleme, die in erster Linie von der hohen Arbeitslosigkeit rühren, aber sie haben auch ihre Hoffnungen, Wünsche und Träume. Im Stadtrat empfanden es jedenfalls alle Fraktionen erst mal als positiv.

Sehen das alle in Artern so entspannt?

Vor allem durch die Berichterstattung in den letzen Wochen, die nicht immer sauber war, hat sich die Meinung etwas verändert. Wenn Sat.1 kommt und immer wieder sagt, hier wird bald „Big Brother“ sein; obwohl ich ausdrücklich sage, dass keine 100 Kameras in der Stadt aufgestellt und die Leute beobachtet werden, dann verunsichert das die Leute. Die Stimmung ist momentan geteilt.

Vielleicht haben manche einfach keine Lust, das Statistenfutter für eine TV-Produktionsfirma zu sein, die letztlich nur ihr Produkt verkaufen will, in diesem Fall über die Sorgen einer armen Stadt?

Grundsätzlich ist es ja nichts Unanständiges, Geld zu verdienen. Natürlich müssen wir darauf achten, dass die Sache nicht in die falsche Richtung läuft. Ich glaube aber, dass die als Akteure beteiligten Bürger sich nicht einfach in eine Schublade pressen lassen wie bei „Big Brother“. Wenn man das versucht, merken wir das sehr schnell. Solche Sachen wie bei der von Neun Live geplanten Arbeitslosenshow würden wir nie mitmachen. Die Leute in unserer Stadt sind recht bodenständig. Sie leben mit ihren Traditionen und Lebenserfahrungen, die bei vielen mit der Wende einen Bruch bekamen, aber auch mit der Hoffnung, dass es aufwärts geht. Dieser optimistische Touch sollte in der Sendung unbedingt rüberkommen.

Eine Stunde soll wöchentlich über die „Stadt der Träume“ gezeigt werden. Glauben Sie, dass da ein realistisches Bild von Artern und den Menschen hier herauskommt?

Das ist eine schwierige Frage. Ich muss von dem ausgehen, was uns bisher gezeigt wurde. Davon waren wir jedenfalls sehr angetan, weil man mit der Stadt und den Bürgern liebevoll umgegangen ist. Niemand wurde in die Pfanne gehauen.

Was erhoffen Sie sich sonst noch von der Doku-Soap?

Vor allem einen größeren Bekanntheitsgrad für Artern und unsere Region. Die Fernsehzuschauer sollen sehen, dass es hier eine landschaftlich reizvolle Gegend und interessante Menschen gibt. Außerdem hat uns Endemol ein bisschen damit gelockt, dass ihre Sendung als Werbeträger für bestimmte Unternehmen interessant sein könnte. Wir hoffen deshalb, dass auch Firmen kommen und vielleicht einzelne Projekte unterstützen oder sich hier sogar ansiedeln, damit wir die Arbeitslosigkeit deutlich senken können. Die belastet nämlich alle hier.

Was passiert, wenn der ein oder andere ausgesuchte Akteur vom Normalbürger zum Fernsehstar wird und Neid entsteht?

Na sicher wird es den geben. In einer kleinen Stadt, wo fast jeder jeden kennt, gibt es immer solche Eifersüchteleien.

Und – werden Sie selber zu den Darstellern gehören?

Ganz ehrlich: Keine Ahnung.