„Die nächsten Jahre werden bitter“

Wir hätten knallhart sagen müssen, was sich alles ändern muss

Interview JENS KÖNIG
und PATRIK SCHWARZ

taz: Herr Kuhn, vor dem Parteitag schwärmen die grünen Spitzenpolitiker wieder mal kollektiv aus und bearbeiten die Basis. Man merkt, Sie haben Angst.

Fritz Kuhn: Wovor sollte ich Angst haben?

Vor einer erneuten Niederlage.

Nein. Ich bin optimistisch, dass wir auf dem Parteitag in Hannover einen guten Kompromiss hinkriegen. Die Partei will über eine Urabstimmung die umstrittene Frage der Trennung von Amt und Mandat klären. Bis zum Ergebnis dieser Urabstimmung im Mai oder Juni nächsten Jahres soll für Claudia Roth und mich eine Übergangsregelung vorgeschlagen werden. Mit einem solchen Kompromiss wäre die Partei wieder handlungsfähig. Dann hätte endlich auch die Nerverei mit dieser Satzungsfrage ein Ende.

Sie sind genervt?

Alle sind genervt. Die Partei ist seit über zehn Jahren, seit dem Parteitag in Neumünster 1991, in einem Zustand wechselseitigen Genervtseins. Eine gute Mehrheit, fast zwei Drittel der Mitglieder, will die Trennung von Parteiamt und Abgeordnetenmandat aufheben und ist genervt, weil sich nichts bewegt. Und mehr als ein Drittel der Mitglieder ist genervt, weil ihr Recht, die bisherige Satzung zu verteidigen, immer und immer wieder auf die Probe gestellt wird.

Die Parteiführung nervt jetzt weiter, weil sie sich mit ihrer Niederlage vom Bremer Parteitag einfach nicht abfinden will.

Das sehe ich anders. Die Mehrheit der Partei hält es nicht für gut, jetzt, inmitten der Krise, einen erfolgreichen Vorstand nicht mehr wählen zu können. Eine Reihe von Landesverbänden hat nach Bremen gesagt, lasst uns diese Frage der Trennung von Amt und Mandat jetzt ein für alle Mal klären.

Ach Gottchen, und dann haben Sie als Parteichef ganz uneigennützig gesagt: Gut, wenn ihr wollt, klären wir das?

Die Frage ist von der Partei aufgeworfen worden, und wir kämpfen für eine gute Lösung. Mit der Urabstimmung haben wir ein faires Verfahren gefunden, das Problem der Trennung von Amt und Mandat jetzt grundsätzlich zu klären.

Die Partei streitet darüber, was ein faires Verfahren ist. Ob bei der Urabstimmung mit einer einfachen oder einer Zweidrittelmehrheit entschieden werden muss.

Die Satzung ist in dieser Frage eindeutig. Bei einer Urabstimmung reicht eine einfache Mehrheit. Der Bundesvorstand wird sich mit allen, die das anders sehen, nächste Woche noch einmal zusammensetzen. Wir haben nicht die Absicht, die Medien auf dem Parteitag mit einem Rechtsstreit zu unterhalten.

Und wenn die Urabstimmung nicht das gewünschte Ergebnis bringt?

Dann werden Claudia Roth und ich zurücktreten. Meine Kandidatur verstehe ich, genau wie Claudia Roth, als ein Angebot: Ich stehe als Vorsitzender zur Verfügung, wenn die Partei es will. Aber ich bin auch nicht beleidigt, wenn eine Mehrheit der Mitglieder die Trennung von Amt und Mandat beibehalten möchte.

Sie wären nicht beleidigt? Sie wären der erste Parteivorsitzende in der Geschichte, der seinen erzwungenen Rückzug achselzuckend hinnehmen würde.

Ich mache mir nur Sorgen, weil sich die Grünen in diesem Fall selbst schwächen würden. Aber für Verbitterung habe ich nichts übrig.

Außerhalb der Partei interessiert sich, mit Verlaub, kaum ein Schwein für diese grüne Satzungsdebatte. Warum haben Sie Ihrer Basis eigentlich nie die simple Frage erklären können, warum es in der heutigen Mediengesellschaft so wichtig ist, dass ein Parteivorsitzender auch noch im Bundestag sitzen muss?

Vielleicht haben wir einfach zu wenig über die praktischen, alltäglichen Auswirkungen dieser Regelung gesprochen. Die Parteivorsitzenden müssen zum Beispiel jeden Montag den Medien Rede und Antwort stehen, zu jeder politisch relevanten Frage. Jeder Fehler wird da sofort zum Problem der Regierung. Diese Fehler vermeiden kann ich aber nur, wenn ich in allen politischen Debatten sattelfest bin. Dafür ist es notwendig, im Parlament zu sitzen. Gerade wenn man als Partei von der Regierung nicht getrieben werden will, braucht man eine starke Parteiführung. Nur so kann die Partei einen visionären Überschuss produzieren, der über die Regierungspolitik hinausweist.

Die innerparteiliche Kritik der letzten Wochen ist nicht bei Joschka Fischer, sondern fast ausschließlich bei Ihnen abgeladen worden. Ist Fischer inzwischen Gott?

Fischer ist Fischer. Und inzwischen legt sich auch das Sündenbockspiel. Es kann ja nicht angehen, dass für die Erfolge alle zuständig sind, die Niederlagen aber allein bei mir abgeladen werden.

Wie lebt es sich denn so als grüner Prügelknabe?

Ich halte das aus. Ich kann mich auch wehren. Ich bin Allgäuer, ich bin einiges gewohnt.

Das klingt eine Spur zu abgeklärt.

Na ja, schön ist es nicht. Aber ich komme damit zurecht.

Sie haben in den letzten Wochen nie daran gedacht, Ihren Job hinzuschmeißen?

Ich habe natürlich überlegt, ob ich nach der Niederlage von Bremen noch mal als Parteivorsitzender antrete. Wer geht schon gern zweimal zur gleichen Schlachtbank. Aber ich hänge auch viel zu sehr an den Grünen. Ich bin Gründungsmitglied dieser Partei. Ich stehle mich nicht aus der Verantwortung.

Trifft Sie die Kritik nicht zu Recht? Sie sind ein wichtiger Teil des informellen Regimes von Joschka Fischer. Sie sind doch in Wahrheit sein Generalsekretär.

Es gibt nicht mehr den heimlichen Parteivorsitzenden Joschka Fischer, und ich bin schon gar nicht sein Generalsekretär. Ich bin seit 2000 einer von zwei Parteivorsitzenden und habe – zuerst mit Renate Künast, jetzt mit Claudia Roth – zum ersten Mal in der grünen Geschichte ein handlungsfähiges, strategisches Zentrum in der Partei aufgebaut. Die parteiinternen Strömungen sind zurückgedrängt und die informellen Runden in demokratische Gremien wie den Parteirat eingebunden worden.

Fischer ist eingebunden?

Ja. Aber wir haben ihn nicht dressiert. Joschka Fischer hat mit seinen Fähigkeiten und seiner Popularität in der Bevölkerung für die Grünen nach wie vor eine besondere Bedeutung. Die Partei hat ihn zum ersten Mal offiziell als Spitzenkandidaten für die Wahl ausgerufen. Nur weil Fischer bei den Grünen eingebunden ist, kann er auch so frei laufen.

Ja. Alle wichtigen Entscheidungen fallen nach wie vor in einer kleinen Kungelrunde unter Führung des grünen Herrn und Meisters.

Da täuschen Sie sich. Es gab eine Ausnahmesituation, im Bundestagswahlkampf hatten wir ein siebenköpfiges Spitzenteam. Damit ist jetzt Schluss.

Aber die beiden neuen Fraktionsvorsitzenden sind noch von dem Spitzenteam installiert worden.

Sie sind von der Fraktion gewählt worden.

Das sehen viele Grüne anders. Sie werfen der Parteispitze einen bonapartistischen Führungsstil vor.

Ich will gar nicht bestreiten, dass bei der Debatte über Amt und Mandat auch ein Konflikt zwischen oben und unten in der Partei mitschwingt. Aber ich will noch mal ganz deutlich sagen: Die Partei wird vom Bundesvorstand geführt, beraten und unterstützt wird er vom Parteirat. Alle Entscheidungen, die in der Partei fallen, sind demokratisch legitimiert.

Sie haben Anfang dieser Woche das kommende Jahr als „Reformjahr 2003“ ausgerufen. Warum sollen die Wähler, die Sie gerade enttäuscht haben, Ihnen plötzlich glauben?

Ich halte das aus. Ich bin Allgäuer und einiges gewohnt

Unsere Wähler sind nicht enttäuscht. Die Grünen stehen in den Umfragen seit Wochen bei zehn, elf Prozent. Wir haben eher eine gesellschaftliche Grundstimmung, die besagt: Auf die Grünen kommt es an.

Wobei? Um das rot-grüne Chaos zu vollenden?

Um die wichtigen strukturellen Reformen in diesem Land durchzusetzen. Das geht nicht ohne die Grünen. Als kleine Partei sind wir nicht so anfällig für den Widerstand der großen Lobbygruppen wie SPD und CDU.

Aber allgemeine Reformappelle hat dieses Land schon genug gehört. Nicht zuletzt von der rot-grünen Regierung.

Die Grünen sind der Reformmotor dieser Regierung. Vor einem Jahr hat unsere Fraktion wichtige Vorschläge zur Arbeitsmarktpolitik gemacht. Die hat die SPD damals abgelehnt. Jetzt machen wir mit Hartz den ersten großen Schritt bei der Reform des Arbeitsmarktes. Und wichtig ist, dass weitere Strukturreformen folgen.

Was soll im Reformjahr 2003 passieren?

Das Sparpaket, das wir gerade machen, ist ein Notprogramm. Bei einer massiven Wirtschaftskrise geht das nicht anders. Es mag einem da nicht alles gefallen. Wir wissen auch, dass das Notprogramm seine Schwächen hat. Aber dass die CDU in ihrer Kritik nicht sagt, wo sie sparen will, ist Politikverweigerung. Im nächsten Jahr muss es Reformen bei Gesundheit, Rente und Pflegeversicherung geben: Wie kommt man von einem Renten- und Gesundheitssystem, das sich entlang der Löhne finanziert, zu einer breiten Bürgerversicherung? Wie werden die sozialen Sicherungssysteme so verändert, dass die demografische Entwicklung der Bevölkerung weiter berücksichtigt wird? Wie erleichtern wir das Überleben der mittleren und kleinen Betriebe?

Warum musste die Karre erst so gegen die Wand fahren, dass die Grünen plötzlich auf Reformen drängen?

Der Fehler von SPD und Grünen war, dass sich die Koalitionsverhandlungen in einem Tuttifrutti der einzelnen Sparbeschlüsse verloren haben. Darunter haben unsere Ziele und Botschaften gelitten.

Diese Botschaften würden wir auch gern erfahren.

Die wirtschaftliche Lage ist katastrophal, die nächsten Jahre werden bitter. Mit ein paar Pflästerchen kann die Krise nicht gemeistert werden. Der Sozialstaat kann nur mit radikalen Reformen gerettet werden, und diese werden viel einschneidender sein als das Notprogramm. Da ging es „nur“ um eine Einsparung von 15 Milliarden Euro. Die rot-grüne Regierung hat den Fehler gemacht, nur über Sparmaßnahmen zu diskutieren, anstatt den Leuten gleich am Anfang knallhart zu sagen, was sich in diesem Land alles ändern muss.

Das klingt nach Blut, Schweiß und Tränen. Ist das mit diesem Kanzler zu machen?

Ich gehe davon aus. Es gibt im Land einen Ruf nach Führung. Darin liegt die Chance.