Die unbequeme Versöhnerin

Nachbarn verrieten Nachbarn. „Das Schlimmste ist, dass das Vertrauen gebrochen wurde“

von ERICH RATHFELDER

Janja Beć mag bosnische Maler. Sie sitzt gerne in der Galerie von Emir Skender in der Baščaršija, der Altstadt von Sarajevo. Von dort aus betrachtet sie Motive des Malers, der mit dem in Ölfarbe gemalten Erker eines Hauses die Atmosphäre des alten Bosniens auferstehen lässt. Die in der Vojvodina aufgewachsene Janja Beć war vor dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien niemals in Bosnien. Doch jetzt kreisen ihre Gedanken um dieses Land. Eigentlich schon seit Beginn des Krieges im April 1992. Und noch mehr, seit sie sich für Menschen in Bosnien engagiert hat.

In ihrer Heimat gilt sie vielen als Verräterin. Sie nimmt die Drohanrufe nicht leicht, die auch gegen ihre Familie gerichtet sind. Ihr Vater war Partisan und überlebte ein deutsches Lager im Zweiten Weltkrieg, er starb 1990.

Janja Beć studierte Agrarwissenschaften und arbeitete in einer Fabrik als Ingenieurin, bis sie sich entschloss, Soziologie zu studieren. Nach Umwegen über England und andere Länder ging sie in den 80er-Jahren nach Deutschland, weil sie sich in einen Deutschen verliebt hatte. Deshalb beobachtete sie den Krieg zunächst nur von der Ferne aus.

Irgendwann hat sie es nicht mehr ausgehalten, nur Zeitung zu lesen oder Fernsehbilder zu sehen, sie wollte etwas tun, um den schrecklichen Ereignissen etwas entgegenzusetzen. Sie wollte etwas tun, um herauszufinden, was wirklich geschah. Sie gibt es zwar nicht gleich offen zu, doch die allgegenwärtige Kritik an „den Serben“ schmerzte sie.

Im Frühjahr 1995 fuhr sie nach Den Haag zum damaligen Chefankläger des Kriegsverbrechertribunals, Richard Goldstone, und bat ihn, Nachforschungen anstellen zu dürfen. Sie wollte Gewissheit. Tatsächlich bekam sie den Auftrag, Zeugen und Überlebende von Massakern aus dem Jahre 1992, die aus der Region Ključ in Westbosnien stammen, zu befragen.

Janja Beć hat den Platz in der Galerie gewählt, um über das zu sprechen, was sie seit diesem Entschluss am meisten bewegt. Die Atmosphäre hier ist beruhigend, fast eine heile Welt. Dennoch vibriert ihre Stimme, wenn sie darüber spricht, wie sie vor kurzem erneut mit jenen zusammentraf, die damals, vor zehn Jahren, litten. „Es sind Frauen, es sind einfache muslimische Bäuerinnen, manche von ihnen Analphabetinnen aus der Region um Ključ in Westbosnien, die in meinem Buch zu Wort kommen und die ich wieder treffen konnte.“ – „The Shattering of the Soul“ heißt das Buch, das sie seit dem Erscheinungsdatum in Belgrad 1997 bekannt und für viele Serben zur Unperson gemacht hat.

Sie befragte die Zeuginnen im Frühjahr 1995, also vor dem Massaker von Srebrenica und dem Friedensschluss von Dayton. „Ich hatte nur zwei Fragen, und die waren: Was ist passiert und hat jemand geholfen?“ Lange vor Srebrenica, damals im Sommer 1992, habe es in Bosnien viele Massaker durch die serbische Soldateska an Muslimen gegeben. „Das ist ja jetzt verdrängt“, sagt sie. Von vielen in Serbien, aber auch in der internationalen Gemeinschaft. Auch Hida sah sie bei dem Treffen der Überlebenden wieder. Die beiden hielten sich an den Händen und schwiegen.

Hidas Bericht in Janja Beć’ Buch beschreibt zunächst den unspektakulären Alltag in ihrem Dorf: „Unser Dorf ist Prhovo, Bezirk Ključ. Ich habe dort geheiratet, ich war 16, mein Mann war ein Zimmermann und arbeitete in Velenje, Slowenien, brachte alles Geld zu uns … Ich hatte sechs Kinder, fünf Mädchen und einen Sohn, und sie gingen alle in die Schule … sie waren gute Schüler. Wir haben ein Haus gebaut, einen Stall für die Kühe, wir hatten einen Garten, es fehlte uns an nichts …“

Es sei ein normales und bescheidenes Leben gewesen, sagt Janja Beć. Im Dorf Prhovo lebte neben den Muslimen auch ein serbischer Bevölkerungsteil, auch das umliegende Land ist ein gemischtes Gebiet. „Wir kamen gut mit unseren serbischen Nachbarn aus, wir hatten niemals Streit, wir besuchten uns gegenseitig, sie kamen zu uns ins Haus und wir zu ihnen …“, berichtet Hida.

Plötzlich kamen Gerüchte auf, dass in der nahe gelegenen Bezirksstadt Ključ geschossen würde. Hida bekam Angst. Sie nahm die Kinder und flüchtete in den Wald. Dann kamen serbische Nachbarn und sagten, ihnen würde nichts passieren. Sie sollten wieder nach Hause kommen.

„Dass Schlimmste ist, dass das Vertrauen gebrochen wurde“, sagt Janja Beć über Hidas Geschichte. „Die Aufforderung zurückzukehren war nur ein Trick.“ Am nächsten Tag standen „sie“ vor der Tür und forderten Hida und ihre Kinder auf herauszukommen. „Ich blickte nach draußen, und dann sah ich Nachbarn, Lehrer meiner Kinder, Soldaten. Wir mussten uns vor dem Laden in einer Reihe aufstellen, sie befragten uns, sie schlugen uns, die Frauen und Mädchen. Die Männer und Jungen waren schon von uns getrennt. Mein Haus war das erste, das brannte, wir standen in Reih und Glied, die Reihe wankte … Das Haus meiner Mutter brennt, rief mein ältestes Mädchen, sei ruhig, lass es brennen, wenn wir nur am Leben bleiben. Plötzlich wurde es dunkel. Sie schossen auf uns mit all ihren Waffen, und dann warfen sie eine Granate.“ Hida lag verletzt zwischen den Leichen. Ihre Töchter waren tot. Nur die jüngste Tochter, Azra, überlebte. Irgendwie gelang es den unter Schock stehenden überlebenden Frauen und Mädchen, in die Wälder zu fliehen und nach einer Wanderung nach Kroatien und dann nach Slowenien zu gelangen. Von ihrem Sohn hat Hida nie mehr etwas gehört.

Janja Beć hat Hidas Geschichte an den Anfang des Buches gestellt, vor den Erzählungen der neun anderen Frauen, denen von Dževahira, Rubija, Fadila und den anderen. In dieser Nacht vom 31. Mai zum 1. Juni 1992 sind in diesem Dorf über achtzig, in dieser Nacht und den folgenden Nächten in den anderen umliegenden Dörfern ähnlich viele Menschen unter ähnlichen Umständen ermordet worden. Und die zweite Frage, hat den Opfern jemand geholfen? Janja Beć überlegt. „Es waren wenige, aber es gab sie, Serben, die ihre Nachbarn warnten, ihnen etwas zusteckten, ihnen bei der Flucht halfen, obwohl sie sich selbst gefährdeten.“ Eine Kollektivschuld gibt es also nicht? „Auch für die Opfer nicht. Die Frauen, die ich interviewte, haben nie gesagt, sie hassten ‚die‘ Serben, sie haben aber Namen genannt und damit die Schuld individualisiert.“

Das Wissen darum erleichterte Janja Beć etwas. Nach den Interviews war sie dennoch so schockiert, dass sie daran dachte, das Projekt fallen zu lassen. Dass zum Beispiel Lehrer des Dorfes ihre eigenen Schüler umbrachten, wollte ihr nicht in den Kopf. „Hida hat mir geholfen“, sagt sie jetzt. „Ich rief sie im Flüchtlingslager an und sie sagte zu mir, danke für alles, vielen Dank. Ich fragte, warum dankst du mir? Weil du ein guter Mensch bist. Du bist eine Serbin und hast mit mir geweint. Sie wollte meine Schuldgefühle als Serbin von mir nehmen.“

Das Buch habe ihr Leben verändert, sagt Janja Beć und nimmt einen Schluck von dem süßen bosnischen Kaffee in der Galerie des Malers Emir Skender. „Ich habe verstanden, was Leid und Schmerz bedeuten, ich habe keine Angst mehr, zu meinen Gefühlen zu stehen.“

Man müsse die Dinge sehen, wie sie waren. „Verdrängung hilft nicht.“ Das wüsste man ja auch in Deutschland. Im Jugoslawien nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Titozeit also, sei die Wahrheit über den damaligen Krieg unterdrückt worden. Auf diese Weise würden die nationalistischen Mythen weiterleben. Das dürfe jetzt nicht noch mal passieren. „Der Frieden ist erst dann erreicht, wenn man das, was passiert ist, wirklich wahrnimmt und sich damit auseinander setzt.“