: Gänseleben statt Gänseleber
Auf seinem Hof bei Amelinghausen mästet Horst Engel jedes Jahr 600 Weihnachtsgänse nach Neuland-Kriterien. Sie dürfen über die Wiese laufen und fressen, was sie wollen
von GERNOT KNÖDLER
Horst Engel will eine Gans fangen. Ruhig geht er hinter einer Schar von Vögeln drein, die ihn nicht gewohnt sind und der Sicherheit ihres Stalls zustreben. Nur eine hinkt der Herde hinterher. Von Engel abgedrängt humpelt sie weiter bis zum Zaun, den sie aber nicht in Panik, wild mit den Flügeln schlagend zu überwinden versucht: Sie setzt sich einfach.
Engel weiß nicht, warum sie das tut, aber er hatte es vorausgesagt. Vorsichtig nimmt er das um die vier bis fünf Kilogramm schwere Tier auf den Arm, wobei er besonders auf dessen Flügel achtet. Denn mit dem Ellenbogen kann so ein Vogel unangenehm austeilen. Unsere Gans bleibt friedlich. Vom Bauern sanft am Leib umklammert blickt sie mit einem Auge auf den Reporter. Ihr Leib ist kühl, so gut isoliert ihr Federkleid. Lediglich unter der Achsel, dort wo die Daunen für unsere Bettwäsche gezupft werden, ist es warm und gemütlich.
Engels Gans braucht nicht zu befürchten, gerupft zu werden. Und gestopft wird sie auch nicht. Denn als sechs Wochen altes Küken hatte sie das Glück, auf einen Neuland-Hof verkauft zu werden. Bauer Engel hat sich der artgerechten Tierhaltung verschrieben. „Das individuelle Tier wird ernst genommen, indem man sich Gedanken um sein Wohlergehen macht“, charakterisiert Engel das, was ihn an der Neuland-Philosophie überzeugt hat.
Vor vierzehn Jahren fing er nach einem Vortrag des Neuland-Vordenkers Jochen Dettmer damit an, Schweine nach diesen Kriterien zu halten. Vor sechs Jahren kamen die Gänse hinzu, und von denen ist er ganz begeistert: Wie die Schweine seien es saubere und intelligente Tiere, im Gegensatz zu den Kühen, die ihre Fladen in den eigenen Futtertrog fallen ließen. Auch eignen sich Engels feuchte Wiesen für Gänse besser als für Kühe.
„Wir haben festgestellt, dass das Grünland tipptopp hinterlassen wird“, sagt der Bauer. Einmal im Jahr, Mitte Juni, kurz bevor die jungen Gänse auf den Hof kommen, mäht er seine Wiese. Die Silage davon kriegen die Schweine als „Beschäftigungsfutter“, man könnte auch sagen: Snack. Den Rest des Jahres kümmern sich 600 Gänse um die Mahd. Systematisch frisst sich die Schar über das fünf Hektar große Gelände, immer einen breiten Graben im Rücken, auf dessen Wasser sie flüchten können, falls ihnen etwas nicht geheuer scheint.
Die Gänsewiese ist nur auf zwei Seiten eingezäunt und an den anderen von Knicks begrenzt. Die Vögel entfernen sich nicht gerne weit vom Wasser und von ihrem Stall. Außerdem gibt es auch für sie Extra-Futter auf der Wiese: „Sie kriegen Getreideschrot, damit sie wissen, wohin sie gehören“, sagt Engel. In den letzten Wochen vor der Schlachtung füttert er sie mit Möhren, ein Hausrezept gegen Wurmbefall. Auf der Wiese ist das deutlich zu erkennen.
Jede Gans frisst bei Engel soviel sie will und erreicht so in acht Monaten ein Gewicht von vier bis fünf Kilogramm. Eine Stopfgans aus dem Supermarkt muss es in acht Wochen auf drei Kilogramm bringen. Dazu wird ihr ein Schlauch in den Schlund gestopft und Getreidebrei hineingepumpt. Viel länger als acht Wochen, sagt Engel, würden die Vögel das auch nicht überleben.
Wenn es Abend wird, watschelt die Herde von allein Richtung Stall. Beim Einmarsch stellen sie sich an. „In diesem Jahr gibt es eine, die wartet beim Reingehen bis zum Schluss“, erzählt Engel. „Sie muss gestreichelt werden, dann erst geht sie rein.“ Der Stall ist eine Überlebensversicherung für die Tiere und für Engels Gänsemast. Blieben die Vögel über Nacht draußen, würde der Fuchs tun, was er sich tagsüber nicht traut: Sich ranschleichen, einer Gans mit einem Biss ins Genick den Garaus machen und ab durch die Mitte. Den Stall nachts gut zu verrammeln, ist auch deshalb notwendig, weil sich auch „menschliche Füchse“ an seinen Gänsen vergreifen. „Wenn man gegen Ende der Zeit die Tiere zählt, und es fehlen 50 bis 60 Stück, kann man sich das nicht anders erklären“, sagt Engel.
Jedes Jahr an zwei Tagen kurz vor Weihnachten packt er seine Gänse in die Plastikkäfige, in denen sie gekommen sind, und fährt mit ihnen zum Schlachthof. Die Begleitung dient dazu, die Tiere, so gut es geht, zu beruhigen. „Die ahnen schon mal was“, sagt Engel. „Wenn die in den Kisten sind, dann sind die mucksmäuschenstill.“ Auch die Hälfte, die nach dem ersten Transport zurückbleibt schnattere nicht mehr wie sonst. Auch dem Bauern fehlen sie ein bisschen, bis im nächsten Frühjahr wieder neue Küken kommen.
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