Millionen höchst zerbrechlicher Strukturen

„Ich werde jeden Einzelnen von diesen Schwachköpfen töten“: Morten Rhue, der mit dem Jugendbuch „Die Welle“ bekannt geworden war, erzählt in seinem neuen Roman „Ich knall euch ab!“ die Geschichte von zwei jugendlichen Amokläufern. Er hat sich an den Morden von Littleton orientiert

„Ich knall euch ab!“ folgt der medialen Dramaturgie des Ereignisses

von ROBERT HODONYI

„Reality“ steht in der linken oberen Ecke des Covers von Morten Rhues „Ich knall euch ab!“. In diesem Fall heißt die Wirklichkeit: Littleton. Der Roman verhandelt die Ereignisse, die inzwischen über drei Jahre zurückliegen: Am 20. April 1999 betraten zwei Schüler mit halb automatischen Waffen, über 900 Schuss Munition und mehreren Bomben das Gebäude der Columbine High School in Littleton, Colorado. Dem Amoklauf fielen zwölf Mitschüler und ein Lehrer zum Opfer, die Täter richteten sich selbst. Littleton ist seitdem zu einem Symbol für die neue Qualität der Gewalt an Schulen geworden, die bis zum Amoklauf des Erfurter Gymnasiasten Robert Steinhäuser für hierzulande nicht möglich gehalten wurde.

Morton Rhue, der in den Achtzigerjahren mit seinem Jugendbuch „Die Welle“ bekannt geworden war, hat mit „Ich knall dich ab!“ ein Dokudrama geschrieben, das auf den Ereignissen von Littleton basiert. Gary Searle und Brendan Lawlors, so heißen die beiden Amokläufer im Roman. Der Roman sammelt Kommentare und ordnet sie chronologisch. Mitschüler, Freunde, Lehrer und Eltern kommen zu Wort. Zitiert wird auch aus E-Mails und Chats. Auf der einen Seite schafft der Roman so Authenzität, auf der anderen Seite haftet ihm aber etwas Unfertiges an – wie den fragmentarischen Fernsehberichten, die auf diese oder ähnliche Ereignisse folgen.

„Ich knall euch ab!“ folgt minutiös der medialen Dramaturgie: Wie bei einem Puzzle werden Details aus dem Leben des Täters aneinander gefügt. Irgendwann einmal, so die Hoffnung, ergibt sich daraus ein Gesamtbild und damit wenigstens ansatzweise eine Erklärung.

Dieser Ereignislogik entspricht der Aufbau des Buchs. Das Ende steht am Anfang. Gary begeht Selbstmord: „Eine Kugel vernichtet das Hirngewebe, durch das sie hindurchfährt, und die durch den Aufschlag ausgelösten Schockwellen zerstören das gesamte Organ, indem sie Millionen höchst zerbrechlicher Strukturen und Verbindungen mit einem Schlag auseinander reißen.“ – Ein heftiger Einstieg.

Von diesem Punkt aus führt der Roman zurück. Gary und Brendan gelten als Außenseiter. Sie besuchen die High School in Middletown. Täglich werden sie von den Footballstars der Schulmannschaft gemobbt. Von den Lehrern ist keine Hilfe zu erwarten. Bei Gary und Brendan reifen Pläne für einen Rachefeldzug. Die Abrechnung wird nach dem Vorbild der Amokläufer von Littleton geplant. In einer E-Mail von Brendan an Gary heißt es: „Ich werde jeden Einzelnen von diesen Schwachköpfen töten. Genau wie die Typen von der Columbine High School, nur besser.“

Es gibt Indizien, Signale. Gary und Brendan beginnen sich für Waffen zu interessieren. Im Chat mit Freunden verbreiten sie merkwürdige Ansichten über den Tod. Ihrer besten Freundin raten sie davon ab, den Abschlussball der High School zu besuchen. Dort werden sie später Sprengfallen platzieren und Rache nehmen. Nur: Niemand ist in der Lage, aus den einzelnen Andeutungen die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen.

In der Realität hat dieses Problem in der Folge von Littleton Verhaltenspsychologen beschäftigt. Man geht davon aus, dass es so genannte leakages gibt, Sickerstellen also, die gewalttätige Absichten und Mordfantasien von Schülern verraten. An amerikanischen Schulen werden seit Littleton gezielt psychologisch geschulte Threat Management Teams eingesetzt, die vollständig in den Schulalltag integriert sind. Robert Steinhäuser soll beispielsweise, nachdem er beim Rauchen auf dem Schulhof ertappt worden war, mit dem Zeigefinger auf den Lehrer gezielt haben, als wolle er einen Schuss abgeben. Für ein Threat Management Team wäre diese Handbewegung ein klares Indiz, dem eine Intervention folgen würde.

Auch subtilere Kontrollmechanismen werden diskutiert: Mit dem Argument der Gewaltprävention sollen Schüler angehalten werden, einander genau zu beobachten – damit wäre das Überwachungssytem fast perfekt. „Ich knall euch ab!“ entzieht sich dieser Vision von absoluter Sicherheit. Morten Rhue dokumentiert, aber er kommentiert nicht.

Morten Rhue: „Ich knall euch ab!“ Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Ravensburger, Ravensburg 2002, 159 S., 4,95 €