Die Zwei-Klassen-Medizin

Großkonzerne in Südafrika fangen an, sich um Aidskranke zu kümmern. Für die Armen sind keine billigen Medikamente da

aus Johannesburg MARTINA SCHWIKOWSKI

Für Südafrikas Gesellschaft und damit auch die Wirtschaft bewahrheiten sich die schlimmsten Befürchtungen: Die Zahl der HIV-Infizierten wird weiter steigen, die Krankheit wird weiter Familien zerstören, die Mehrheit der Kranken kann sich keine Medikamente leisten und bleibt ihrem Schicksal überlassen. Das heißt auch: Die Arbeitskraft der Belegschaften ist ernsthaft gefährdet. Angesichts dieser Perspektive bieten einige große Konzerne seit kurzem Anti-Aids-Medikamente für erkrankte Arbeitskräfte an. Gewerkschaften und Aidsgruppen fordern mehr: eine umfassendere Strategie, die über die Umgebung des Arbeitsplatzes hinaus reicht.

Aids sei eine Bedrohung für die Firma und habe bereits negative Auswirkungen auf die Produktivität, sagt Tracy Petersen, Sprecherin des Bergbaukonzerns De Beers. Die Abwesenheit aus Krankheitsgründen und durch Teilnahme an Beerdigungen steigt. Etwa 12 Prozent der 11.000 Angestellten im südafrikanischen Firmensitz seien mit dem Virus infiziert. Neben freiwilligen Tests und Beratungen soll ab Januar 2003 ein zweijähriges Pilotprojekt für kranke Angestellte und ihre Partner beginnen: Sie können – unter Zusicherung der Anonymität – außerhalb der Firma bei einem Arzt Medikamente erhalten. Dabei trägt die Firma 90 Prozent der Kosten, pro Jahr pro Person 2.400 Euro, schätzt Petersen. Das Programm umfasst auch die 40 Prozent der Arbeitnehmer, die nicht krankenversichert sind. Einen ähnlichen Plan hat der Großkonzern Anglo American seit August eingeführt. Lebenspartner von Angestellten sind jedoch ausgeschlossen. Von Anglos 134.000 Arbeitnehmern im südlichen Afrika sind etwa 20 Prozent infiziert.

Als „gute Absicht“ lobt Mofe- re Fere, Sprecher der Gewerk- schaft für Bergarbeiter, derartige Schritte. „Aber das Problem kann nur mit einem Programm für die gesamte Bergbauindustrie angegangen werden kann.“ Eine halbe Millionen Arbeiter, die Mehrheit aus den umliegenden afrikanischen Ländern, schuftet laut Fere unter miesen Bedingungen in Südafrikas Bergwerken. Ihr Leben in Männerheimen, getrennt von ihren Familien, führt zur Prostitution und zur Ausbreitung des Virus. Die Gewerkschaft fordert den Bau von Familienunterkünften und eine Behandlung der Aidsproblematik insgesamt, nicht nur die Ausgabe von Medikamenten.

In einer im April veröffentlichten Untersuchung befragte die Hilfsorganisation „Save the children“ 95 Unternehmen jeder Branche, darunter Versicherungen, Banken, Lebensmittelketten und Staatsbetriebe, zu Aids und entsprechenden Maßnahmen. Herausgefordert durch die erhöhten Kosten, Druck von Gewerkschaften und Furcht um Imageverlust seien die meisten recht aktiv in Vorbeugungs- und Beratungsmaßnahmen, erklärt Direktor Kevin Byrne. Nur wenige sähen sich allerdings in der Lage, Medikamente anzubieten. Eine Anzahl von Firmen sei motiviert, sich mehr in Gemeinden zu engagieren, wenn Steuerrückzahlungen dafür vorgesehen wären. Die Bedürfnisse von Kindern – immer öfter als Vorstand eines Haushaltes in Verantwortung – blieben völlig unberücksichtigt, so Byrne. Abgesehen von wenigen großen Firmen wollen sich laut Byrne die meisten zudem nicht öffentlich mit Kampagnen gegen sexuelle Gewalt gegen Frauen in Verbindung sehen. Doch die alarmierenden HIV-Infektionsraten seien bei 15- bis 19-jährigen Frauen zu finden.

Als pure „Reklame“ sieht Sharon Ekambaram, Sprecherin der Aidsaktivisten „Treatment Action Campaign“ (TAC), die Aktionen der Firmen. „Das Aids-Stigma greift so tief, dass die Mehrheit der geschätzten 5 Millionen Infizierten über ihren Status nichts wissen.“ Die Zweiklassengesellschaft verschlimmert in Südafrika das Dilemma: Wer Geld hat, kann Medikamente kaufen oder durch eine Versicherung Hilfe erhalten. Doch die Mehrheit kann es nicht, und billigere Nachahmerprodukte sind nicht erhältlich. TAC will – mit Unterstützung des 1,8 Millionen Mitglieder starken Gewerkschaftsverbandes Cosatu – die Regierung zur Parlamentseröffnung im Februar 2003 zur Annahme eines landesweiten HIV-Aids-Behandlungsplan zwingen, indem auch Anti-Aidst-Therapien im öffentlichen Gesundheitswesen vorgesehen sind.