: Frei nach Songbook
Mit Schläue und Schlippenbach: „Die Enttäuschung“ spielte zum Geburtstag des Jazzclubs in Leer das Gesamtwerk von Thelonious Monk. Sozusagen eine enzyklopädische Leistung, für die man Bremen mittlerweile verlassen muss
Vielleicht ist es der metropolitane Blick, dessen sich der Großstädter bisweilen gerne befleißigt, wenn er in die Kleinstadt kommt. Er lässt einen wahrnehmen, dass es hier, in Leer, noch Brücken gibt, die, geregelt durch eine Ampel, einspurig befahren werden. Und dass der Weihnachtsmarkt im malerischen Nebel schon kurz vor acht Uhr abend so ruhig daliegt, als wär er Filmkulisse.
Zwei Stunden später wird Rudi Mahall, Klarinettist des Berliner Jazzquartetts „Die Enttäuschung“ sagen, dass jetzt das letzte Set beginne. Dass sie „normalerweise keine Ansagen machen“, fügt er noch hinzu, „die kosten zu viel Zeit.“ Aber hier führe die S-Bahn ja auch spät noch. Das Publikum nahm’s gelassen zur Kenntnis. Was bisher geschah, war spannend und unterhaltsam genug, einen noch nicht nervös auf die Uhr gucken zu lassen.
Der „Kulturspeicher“, direkt am Ufer der Ems gelegen, ist dem hiesigen (Vegesacker) KITO nicht unähnlich – mit einem wesentlichen Unterschied: Freier, schräger Kram, der an den Peripherien des Jazz entlangschlittert, findet im Bremer Norden nicht mehr statt. So mag es rührend anmuten, wenn der Bürgermeister zum 77. Kulturspeicher-Konzert (nach zehn Jahren) kommt, um sich gut gelaunt bei lokalen Sponsoren zu bedanken.
Hier in Leer kriegt man immerhin eine Menge auf die Beine. Irgendwie symptomatisch, dass mit Alexander von Schlippenbach an diesem Abend ausgerechnet der am Klavier sitzt, der mit seinem Trio weiland diese Art von Musik im KITO ausklingen ließ.
Es ist ein rotes Klavier, auf dem er an diesem Abend unnachahmlich nach Tönen sucht. Die normalerweise pianistenlose „Enttäuschung“ hat sich ihn mit gutem Grund als Verstärkung ausgesucht. Schließlich geht es um Thelonious Monk. Und wohl niemand hat intensiver als er die europäische Linie der frei improvisierenden Musik mit den brüchigen, kargen (und selten auch hitverdächtig eingängigen) Klangwelten des amerikanischen Musikers enggeführt.
Alexander von Schlippenbach macht das seit der Zeit, da die vier Musiker der „Enttäuschung“ laufen lernten. Gemeinsam haben sie heute den Standort Berlin – und die Vorliebe für Monk. Das Konzept des Abends klingt monumental: Alles von Monk. Als würde man eine Komplettlesung der „Encyclopædia Britannica“ ankündigen.
Jede Komposition komme vor, heißt es. Zwangsläufig ein Abend voller Brüche, Sound- und Tempowechsel. Dass solches nicht irgendwann langweilig wird, oder albern, liegt an der erfrischenden Bühnenpräsenz mindestens ebenso wie an der Spielkultur des Quintetts.
Die Stücke werden eingeführt und fallengelassen, scheinen sich aufzulösen, um dann wieder sich ans Original zu schmiegen. Was nicht zuletzt für das grandiose Songbook von Monk spricht. Themen überlagern sich. Zwischendurch lacht Rudi Mahall sich immer wieder scheckig – mitten in einem Solo – und Axel Dörner, der sicher zu den spannendsten hiesigen Trompetern gehört, gibt mit ironischer Eleganz den Jazzmusikerdarsteller.
Irgendwann wird Uli Jenneßen, der mal swingt wie Hölle, dann wieder auf sein Schlagzeug einprügelt als müsste er’s züchtigen, einen roten Gymnastikball und prellt den Beat auf die Bühnenbretter. Die anderen treten den Ball weg, wobei einiges an „Kulturspeicher“-eigenem Geschirr zu Bruch geht.
Alexander von Schlippenbach schaut dem Treiben amüsiert zu. Und aufmerksam. Aufmerksam sind alle fünf. Und das über gut drei Stunden und manchen Schabernack hinweg. Sie arbeiten sich ab an ihrem überbordenden enzyklopädischen Projekt. Dies allerdings – Hut ab! – ohne auch nur einen Anflug akademischen Interesses aufkommen zu lassen.
Sie „erklären“ Monk in Musik, in seiner Musik. Sie machen mittels der selbst gewählten Materialfülle eine seiner Grundüberlegungen transparent: Wie komme ich von einer Tonsequenz zur nächsten. Faszinierende Musik der Übergänge ist das. Und wenn man dafür nach Leer fahren muss, dann fährt man dafür eben nach Leer.
Tim Schomacker
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