Pro Monat zehn Männer raus

Das Bremer Wegweisungsrecht greift: Bisher wurden rund 72 Schläger der Wohnung verwiesen. Jetzt lernen die Ärzte, wie Opfer zu erkennen sind. Trotz der neuen Rechtslage bleibt die Dunkelziffer bei häuslicher Gewalt enorm hoch

Seit Februar hat die Polizei 72 gewalttätige Bremer ihrer Wohnung verwiesen, um deren Opfer vor weiteren Übergriffen zuschützen. „Das neue Wegweisungsrecht greift“, sagte Brigitte Lück, Mitarbeiterin der Frauengleichstellungsstelle vergangene Woche vor 28 Frauen und zwei Männern in der Stadtwaage – fast alle Fachkräfte aus dem medizinischen und therapeutischen Bereich. Sie waren zur ersten Fortbildungsveranstaltung gekommen, die die Ärztekammer und das Zentrum für Public Health der Universität zum Thema „Häusliche Gewalt aus ärztlicher Sicht“ in Bremen ausrichtete. Dabei herrschte Einigkeit: „Die Dunkelziffer von Gewalttaten im häuslichen Bereich ist enorm hoch.“ Und: „Viele Ärzte gehen mit den Ofern solcher Gewalttaten noch nicht angemessen um – oder erkennen sie oft gar nicht.“

In den USA sind Mediziner da vielfach weiter, berichtete Petra Schmidt aus Hannover. Dort gebe es gezielte Anleitungen, wie mögliche Opfer zu erkennen und anzusprechen seien – wie sie ähnlich auch in einigen Bremer Kliniken gelten. Schmidt wies auf eine kanadische Studie hin, nach der 80 Prozent der befragten Frauen angaben, direkt angesprochen werden zu wollen.

Um das Gespräch zwischen MedizinerIn und Patientin zu erleichtern und um die Angst vor dem „falschen Verdacht“ mindern zu können, werden folgende Fragen empfohlen: „Sind Sie im letzten Jahr von jemandem geschlagen, getreten oder gestoßen worden? Wenn ja, von wem? Fühlen Sie sich in Ihrer derzeitigen Situation sicher?“ Voraussetzung dafür sei allerdings, dass das medizinische Personal die Möglichkeit einer häuslichen Gewalttat erwäge – und Verletzungen auf ihre Plausibilität hin überprüfe.

„Wer die Treppe hinab gestürzt ist – wie vielfach behauptet – hat selten blaue Flecken an den Unterarmen“, sagte Schmidt. „Die entstehen eher, wenn das Opfer sich mit dem Arm vor Schlägen schützt.“ Dramatisch sei die Gefährdung von schwangeren Frauen, die in den ersten und letzten drei Monaten der Schwangerschaft ein um tausendfach erhöhtes Risiko hätten, geschlagen zu werden. Verletzungen fänden sich oft an Bauch, Busen und im Genitalbereich. „Die Ursache mancher Fehlgeburt ist bisher bestimmt nicht erkannt worden“, mahnte sie.

„Die Kliniken sind voll mit geschlagenen Frauen“ – von der Gynäkologie über die Chirurgie bis in die zahnmedizinischen Abteilungen, sagte die Leitende Psychologin des Krankenhauses St. Jürgen-Straße, Helga Loest. Immerhin gebe es bereits Fortbildungen für diesen Bereich.

„Bei allen Verbesserungen – wir können alle noch dazulernen“, sagte auch Werner Meyer vom zuständigen Kriminalkommissariat 32. Er wies auf ein Angebot der Polizei in Form eines Paketes hin, das auch niedergelassene Ärzte bestellen können, um die Untersuchung nach einer Vergewaltigung beispielsweise so durchzuführen, dass die Ergenbnisse auch noch in einem Prozess gegen den Täter verwendet werden können, wenn die Frauen sich dazu entschließen könnten. Voraussetzung sei auch hier allerdings die Sensibilität des Arztes, betonte die Gynäkologin Marlen Schubert-Stadler. Sie sehe pro Woche mindestens ein Opfer häuslicher Gewalt. Auch die Landesfrauenbeauftragte Ulrike Hauffe monierte, dass Fortbildung bei den niedergelassenen MedizinerInnen für diesen Themenbereich – anders als in kommunalen Einrichtungen – eine private Entscheidung sei.

Als Gruppe mit besonderen Problemen gelten eingewanderte Frauen mit Sprachschwierigkeiten. „Da haben unsere Hilfsangebote nur sehr selten Erfolg“, resümierte Loest. Familienangehörige als Übersetzer seien selten hilfreich, das Problem anzusprechen. Oft greife die Klinik dann auf mehrsprachiges medizinisches Personal zurück. Die Bremerhavener Hausärztin Birgit Lorenz stellte fest, dass Bremen über ein gut ausgebautes Versorgungsnetz für Opfer häuslicher Gewalt verfüge – während in Bremerhaven wenig Möglichkeiten bestünden.

Bundesweit liegt Bremen mit der Umsetzung des Gewaltschutzprogrammes vorne, sagte ZGF-Vertreterin Lück. Sie erwarte, dass das Ausmaß häuslicher Gewalt erst durch das Wegweisungsrecht sichtbar würde. Ein Pilotversuch in Baden-Württemberg habe gezeigt, dass nun auch vermehrt Frauen aus der Mittelschicht die Polizei riefen. „Die für viele bedrückende Frage ‚muss ich jetzt ins Frauenhaus?‘ stellt sich so nicht mehr“, sagte Lück. Auch weise die Bremer Polizeistatistik unter der Rubrik Körperverletzung künftig erstmals häusliche Gewalt aus.

Eva Rhode