Zwei Kulturen und der Alltagskosmos

„Ich hatte keine Ahnung vom Nahen Osten“, gesteht Michael Kleeberg. Abbas Beydoun hat ihm ein facettenreiches Bild der arabischen Welt vermittelt und sich ansonsten voll und ganz auf den Berliner Alltag eingelassen. Ein Gespräch über eine interkulturelle Begegnung mit literarischen Ambitionen

Interview EDITH KRESTA

taz: Abbas Beydoun, was haben Sie nach Ihrem sechswöchigen Aufenthalt Neues über Deutschland erfahren?

Abbas Beydoun: Für mich war der Aufenthalt in Berlin ein kleines Abenteuer. Ich habe vieles kennen gelernt, von dem ich nichts wusste. Es war ein Abenteuer der besonderen Art. Ich habe mich an die Leute, den Rhythmus, das Klima angepasst. Ich habe das kulturelle Leben kennen gelernt und das alltägliche Leben. Und ich hatte die Auseinandersetzung mit Michael. Das war eine sehr gute persönliche Erfahrung. Ich glaube an den Zufall. Und das Treffen mit Michael war ein guter Zufall.

Michael Kleeberg: Auch für mich war das Ganze ein Abenteuer. Nun bin ich vielleicht als deutscher Schriftsteller in einer Außenseiterrolle, weil ich 17 Jahre meines Lebens im Ausland verbracht habe. Und dementsprechend mehr mit nichtdeutschen Intellektuellen in meinem Leben zu tun hatte als mit deutschen. Das Projekt hat mich interessiert, weil ich weiß, wie sinnvoll und bereichernd ein derartiger Austausch ist. Es hat mich vor allem auch deshalb interessiert, weil die arabische Welt, der Nahe und der Mittlere Osten geschichtlich, kulturell und literarisch etwas sind, von dem ich überhaupt keine Ahnung hatte. Ich hatte im Vorfeld eine gewisse Form von Unkenntnis und vorgefertigter Meinung, die allerdings nicht meine persönliche ist, sondern sich kulturell ganz einfach aus unserer Position und Geschichte heraus ergibt: dem Selbstverständnis als jüdisch-christlicher Kulturkreis und natürlich dem Holocaust. Ich hatte ein sehr, sehr großes Interesse, mehr über die andere Sicht der mir unbekannten arabischen Kultur zu erfahren.

Abbas Beydoun, unterscheidet sich der Alltag in Deutschland stark vom Libanon?

Abbas Beydoun: Das Alltagsleben jedes Individums unterscheidet sich vom Alltagsleben der anderen. Die Alltäglichkeit spiegelt die Ideen und Werte wider, die sich durchgesetzt haben. Und genau das interessiert mich: zu sehen, wie ein deutscher Schriftsteller lebt.

Michael Kleeberg: Etwas zu vertiefen bedeutet auch für mich, Alltag zu erfahren. Denn jeder Gedanke, jede Logik kommt aus dem Alltagskosmos. Der Alltag ist auch Grundlage jeder literarischen Erfahrung. Es geht nicht um große Konzepte, dass ich beispielsweise Abbas Hegel erkläre, den kennt er ohnehin besser als ich.

Abbas Beydoun: Ich habe Michael bei sich zu Hause erlebt, seine Frau, seine kleine Tochter, sein Haus, seinen Hund, seinen Garten. Das war sehr interessant für mich auch in literarischer Hinsicht. Zu sehen, wie ein deutscher Schriftsteller lebt. Wie er schreibt. Wir haben sehr viel über deutsche Geschichte gesprochen, und ich glaube, Michael hat ein Talent, die Geschichte in seine Literatur einfließen zu lassen. Für ihn ist das eine untrennbare Einheit. Durch ihn habe ich gesehen, wie Berlin sich über die Jahrhunderte entwickelt hat. Und ich konnte beobachten, wie ein deutscher Schriftsteller diese Geschichte sieht und wie er aus dieser Geschichte seinen Blick auf die Welt herauskristallisiert. Geschichte ist für Michael gelebtes Leben. Die Geschichte gibt seiner literarischen Arbeit eine Vision von der Welt, eine Tiefe.

Abbas Beydoun, was hat Sie überrascht?

Abbas Beydoun: Es war interessant für mich, konkret zu erleben, welche Schwierigkeiten es mit der deutschen Einheit gab, von der ich zwar theoretisch wusste, die ich aber nicht konkret nachvollziehen konnte. Es hat mich interessiert, wie die Deutschen darüber sprechen und diskutieren. Wir haben auch über die Schwierigkeit europäischer Identität, über die Schwierigkeiten junger deutscher Schriftsteller und die Dominanz der amerkanischen Kultur hierzulande gesprochen. All das sind Probleme, die mir nicht unbekannt sind, ich kann sehr leicht Vergleiche ziehen. Das, was hier passiert, geschieht auch bei uns. Es gibt gemeiname Erfahrungen. Beispielsweise bei der Frage der Identität: Die Araber suchen ihre Identität, und ein Deutscher hat vielleicht einen Teil seiner Identität wiedergefunden. Unsere Auseinandersetzungen haben gezeigt, dass es eine gewisse universelle Ebene gibt.

Michael Kleeberg, hat sich Ihr Blick auf die arabische Welt durch die Begegnung mit Abbas Beydoun verändert?

Michael Kleeberg: Ja, aus den vielen Gesprächen mit Abbas und arabischen Intellektuellen hat sich ein facettenreiches Bild zusammengesetzt. Was ich von der arabischen Welt verstanden habe, ist, dass sie von erschreckenden Widersprüchen geschüttelt wird und dass sie ihre Identität in einer mythischen Vergangenheit sucht. Aber mir wurde auch das immense kulturelle Potenzial der arbischen Welt bewusst, das sich aufgrund politischer Probleme nicht verwirklichen kann. Aber auch aufgrund eines fehlenden Selbstbewusstseins. Abbas hat dies sehr schön formuliert: „Es ist der Westler im Arbarer, der verhindert, dass er zu sich selbst findet.“ Es ist die Verwestlichung der arabischen Welt, die etwas konstruktiv Eigenes verhindert. Und da sehe ich eine Parallele zu Deutschland: Um eine andere Kultur auf- und anzunehmen, muss man eine gewisse Selbstsicherheit haben. Und die fehlt auch hierzulande.

Abbas Beydoun, was werden Sie Michael Kleeberg zeigen, wenn er im Januar für sechs Wochen nach Libanon kommt?

Abbas Beydoun: Wir werden sicherlich ganz viel dem Zufall und dem alltäglichen Gang der Dinge überlassen.