Wenn der Pfeil vom Himmel fällt

Die neue Zeit ist die Zeit des Geldes. Wenn neues Geld in die Dörfer kommt, weicht die Tradition ein Stück

aus Piéla DOMINIC JOHNSON

Die Erntezeit ist die verführerischste Jahreszeit. Sie könnte glauben machen, dass genug da ist, um alle satt zu machen. Saftig-grüne Weiden erstrecken sich zwischen Affenbrotbäumen, und die sonst trockene Sandebene um Piéla erinnert an eine Seenplatte, denn die vielen kleinen Stauseen sind gut gefüllt – Erbe des Kollektivismus des charismatischen Militärdiktators Thomas Sankara in den 80er-Jahren. Aber wenn die Landschaft am üppigsten aussieht, ist die Situation der Menschen zugleich am prekärsten. Die alten Lebensmittelvorräte sind aufgebraucht, die neuen sind noch nicht angelegt, und so gibt es genau dann wenig zu essen, wenn das Getreide voll im Korn steht. Erst muss die Ernte eingebracht und das Produkt zum Markt getragen werden, und wer da schlecht handelt, gefährdet das Überleben seiner Familie im kommenden Jahr.

Es dauert morgens nicht lange, bis sich die Hitze über den 7.000-Einwohner-Ort Piéla legt und der herannahende Wüstenwind Harmattan mit seinen Vorboten von Sandstürmen und Trockenzeit die Sicht einschränkt. Aber die Arbeit auf dem Feld muss getan werden, und die Bauernfamilien ziehen auf die Felder. 20 Tage dauert die Ernte, sagt Tindono Mifalba. Der kleine Mann im verschwitzten T-Shirt einer protestantischen Sekte steht auf seinem Feld am Ortsrand zwischen den übermannshohen Sorghum-Stauden, maisähnlichen Gewächsen, deren Kolben aus Körnern in schwarzen Hülsen bestehen. 100 Kilo davon muss er jeden Tag mit seinen Töchtern und deren Kindern einsammeln, das ergibt eine Jahresernte von zwei Tonnen. „Das reicht für die Familie zum Essen“, meint er. Neben Sorghum zieht er Hirse, Sesam und Erdnüsse.

Sein Feld hat Mifalba mit Reihen von Steinen unterteilt, was Erosion und Wasserablauf vermeidet – eine einfache, aber wirksame Methode der Produktivitätssteigerung, auf die er stolz ist; er musste jeden einzelnen Stein mit dem Fahrrad herbringen. Tindono Mifalba ist nicht nur irgendein Kleinbauer. Er ist „Animations- und Sensibilisierungssekretär“ der örtlichen Bauernvereinigung, dem „Verband für die sozio-ökonomische Entwicklung von Piéla-Bilanga“. Der 1991 gegründete Verein, inzwischen vom Deutschen Entwicklungsdienst DED gefördert, soll Bauern helfen, ihre Lebensumstände zu verbessern: Brunnen bauen, Getreidebanken anlegen, Zugang zu Krediten erleichtern.

Was ist ein „Animations- und Sensibilisierungssekretär“? „Animation heißt, einen Haufen Leute zusammenzubringen“, sagt Mifalba mit der klaren Sprache eines praktischen Menschen. „Sensibilisierung heißt, ihnen was zu erklären.“ Also zum Beispiel, dass es besser ist, nicht mit einem schmutzigen Gefäß Wasser aus dem Brunnen zu holen. Oder wie man es anstellt, mit dem Verkauf seiner Überschüsse mehr zu verdienen.

Wenn die Bauern besser arbeiten, können sie mehr ernten, und dann können sie mehr verdienen, und dann können sie ihren Kindern mehr bieten, und dann kann sich die Gesellschaft insgesamt entwickeln. Bildung, Bildung, Bildung – dies ist das große Zukunftsthema von Burkina Faso, und nicht nur dort. Im westlichen Nachbarland Mali hat es der neu gewählte Staatspräsident Amadou Toumani Touré zu seiner Priorität erklärt, im südlichen Nachbarn Elfenbeinküste hat die Regierung des Sozialisten Laurent Gbagbo vor Ausbruch des Bürgerkrieges ihren Eifer in kostenlose Grundschulbildung mit kostenlosen Lehrmitteln gesteckt. In Burkina Faso plant die Regierung von Präsident Blaise Compaoré, den Anteil der Bildungsausgaben am Staatshaushalt bis 2010 von 4 auf 22 Prozent steigen zu lassen: 25.000 neue Klassenzimmer, 20.000 neue Lehrer, eine Einschulungsquote von 70 statt derzeit 40 Prozent.

Die Förderung von Schulbildung gehört auch zu den Zielen der Bauernvereinigung. Mit Erfolg: Manche Kinder aus Piéla laufen jeden Morgen sechs Kilometer, um das Schulgebäude von Dabesma draußen am Stausee zu erreichen. „Früher dachten die Eltern, ein Kind geht zur Schule, um dann der Schule zu dienen“, erklärt Schulleiter Motagba Lankoandé. „Jetzt begreifen sie, dass das Kind etwas lernt. Nun will jeder ein Schulkind in der Familie haben.“ Sie wählen auch entsprechend: Der Parlamentsabgeordnete für Piéla, Longo Bangou, ist der frühere Direktor der großen Oberschule im Ort. Bangou führt eine Oppositionspartei, aber das ist egal: Er verkörpert die neue Zeit.

Jede Stunde in Dabesma ist Französischstunde, denn die lokale Sprache der Gourmantché ist keine Unterrichtssprache. Praktisches Wissen tritt da hinter Sprachkunde zurück. „Je me lève – ich stehe auf“, brüllen die 28 Erstklässler in ihrem Freiluftklassenzimmer unter dem Reisigdach im Chor und stellen sich hin. „Je m’asseois – ich setze mich“, brüllen sie noch lauter und knallen auf ihre Holzbänke zurück. In der anderen Hälfte des überdachten Unterrichtshofes lesen sich die 18 Zweitklässler kichernd den Satz vor, den die Lehrerin an die Tafel geschrieben hat: „Le képi de Kalifa est sale – Kalifas Mütze ist dreckig.“

Der Sinn dieses Unterrichts leuchtet nicht unmittelbar ein, weshalb immer noch nur ein Fünftel bis ein Drittel der Kinder der Gegend zur Schule gehen. Die anderen hüten Ziegen und helfen bei der Ernte. Das bringt der Familie mehr, und außerdem gibt es in der Grundschule von Dabesma gerade nichts zu essen. Die Frauen, die sonst für die Kinder kochen, bringen jetzt auf den Feldern die Ernte ein. Nur ein paar armselige Kochtöpfe und Plastiksäcke mit Mittagessen lagern in einem abgeschlossenen dunklen Raum – für 185 Schüler. Dass die Kinder überhaupt zum Unterricht erscheinen, ist ein Zeichen von Reichtum, denn umgerechnet etwa zehn Euro pro Jahr für Lehrmaterial, Kantine und Kostenbeteiligung sind zu Beginn des neuen Schuljahres im September fällig, und die Bauern kriegen erst später mit dem Verkauf der Ernten Geld; so müssen sie Kredite bei Geldverleihern aufnehmen.

Wer einmal den Weg in die Moderne betritt, muss ihn also auch zu Ende gehen, sonst landet die Familie überschuldet im Nichts. Die neue Zeit ist die Zeit des Geldes, und in jeder neuen Erntesaison, wenn neues Geld in die Dörfer kommt, weicht die traditionelle Gesellschaft ein Stück weiter zurück. Und es gibt immer mehr Möglichkeiten, die Saison des Geldes zu verlängern, gar auf das ganze Jahr auszudehnen.

Neuerdings finden sich an den Landstraßen um Piéla Hinweise auf Goldminen. „Das Gold ist wichtig, denn da können die Leute mit ihrer Arbeit Geld verdienen“, erklärt Mifalba. „Man kann 1.000 bis 2.000 Leute in einer Mine finden. Viele sind zu Siedlungen geworden, die Leute bauen Häuser, gründen Märkte. Manche Leute sind richtig reich geworden. Aber die Leute sagen, dass das Geld des Goldes von kurzer Dauer ist. Man gibt es schnell aus.“ Von Händlern mit Villen und flotten Autos wird erzählt, es gibt junge Leute in Bin-Laden-T-Shirts.

Die Gourmantché im Osten Burkina Fasos scheinen den Veränderungen aufgeschlossener gegenüberzustehen als andere Völker des Sahel. Viele von ihnen sind Christen, in einer islamisch geprägten Region. Sie leben in einer Handelsgegend, wo der Arm des Staates nicht allzu weit reicht und wo Schmuggelware aus Nigeria und den Atlantikhäfen in die Sahelregion umgeschlagen wird. Der Legende nach fiel der erste König der Gourmantché gegen 1200 mit seiner Frau vom Himmel, sein mächtigster Nachkomme schoss einen Pfeil in die Luft, der wieder herunterfiel und ihn tötete – keine besonders Ehrfurcht einflößende Gründungslegende. Zur Zeit haben die Gourmantché gar keinen König, weil die verschiedenen Dorfchefs sich nicht auf einen Nachfolger des gestorbenen Throninsassen einigen können.

Der Chef von Piéla verkörpert die alte Zeit, ein kleiner, ernster Mann in weißer Mütze und blau-weißem Festtagsgewand. Der 79-Jährige lädt zur Audienz in seiner Rundhütte aus Lehm, in der er leicht erhöht auf einem Liegestuhl sitzt und aus wachen Augen auf seine Gäste hinunterblickt. Ein Zeremoniell wie im Haus von Windsor: Wenn aus der blendenden Sonne draußen ein Untertan in den Schatten Seiner Majestät Hampani Lankoandé tritt, verneigt er sich bis zum Boden und macht Handbewegungen, als wolle er Sand auf sein Gesicht schütten, bevor er sich rückwärts wieder zurückzieht. Über die neue Zeit sagt der Chef in der knappen Übersetzung eines Helfers: „Es gibt Traditionen, und ich stehe dafür, dass sie nicht verschwinden. Mit der Moderne droht die Jugend zu vergessen, wo sie herkommt, welcher Familie sie abstammt.“

Der Alte lügt, behaupten später Leute im Umfeld des Chefs. Seine Söhne seien reiche Händler, ganz modern, und nur daher habe der König der Gourmantché ihn überhaupt zum Ortschef ernannt. Die Söhne sind weggezogen, daher lebt der Chef bescheiden in einem unscheinbaren Lehmhüttenkomplex.

Ganz anders sein kleiner Bruder Hamtoni Lankoandé, Chef von Bilanga, einige Dutzend Kilometer entfernt. Sein Hof ist viel lebendiger, er hat ein Telefon und redselige Berater. Zur Audienz versammelt er die ganze Gemeinschaft um sich im Freien und redet drauflos, ärgert sich über die Landreform der Regierung, die den Chefs das Verfügungsrecht über den Boden nimmt und Kleinbauern Eigentumstitel zuspricht. Die paradoxe Erklärung für seinen größeren Hofstaat: Der Chef von Bilanga ist arm. Seine Kinder konnten es sich nie leisten, wegzuziehen. Sie hängen samt Familie im elterlichen Anwesen herum.

Wenn die Moderne einmal Einzug in das Land der Gourmantché gehalten hat, wird es wohl weder in Piéla noch in Bilanga würdige Nachfolger für die hochbetagten Chefs geben. Vielleicht lohnt es sich nicht einmal mehr, einen neuen Gourmantché-König zu wählen. In der Königshauptstadt Fada N’Gourma ist schon zu sehen, wie die Zukunft aussieht. Ein Syrer hat dort ein monströses Luxushotel gebaut, mit viel zu großen Schlafzimmern und falscher Marmorverkleidung. Abends, wenn der Wüstenwind sich legt und hinter der Bierbude gegenüber der Vollmond aufsteigt, sitzt der Syrer vor seinem weißen Klotz mit einem tunesischen Freund in der Hollywoodschaukel, und die beiden träumen von der guten neuen Zeit, mit geklontem Vieh und Export in die arabische Welt. Wie vor vielen hundert Jahren, als der Transsaharahandel den Lebensrhythmus bestimmte.