Interdisziplinäre Ursuppe

Was sind die Wurzeln menschlicher Eigenschaften? Sind Aggression und soziales Verhalten das genetische Erbe unserer Vorfahren? Geistes- und Naturwissenschaftler haben unterschiedliche Antworten. In Konstanz versuchten sie eine Annährung

von SEBASTIAN LINKE

Ob in literarischen Werken, in Naturkundemuseen oder in Science-Fiction-Filmen – spätestens seit der Darwin’schen Abstammungslehre sind die Inszenierungen unserer Vorfahren enorme Publikumsschlager. Und die wissenschaftliche Forschung liefert eine Vielzahl von Erklärungen, die in öffentlichen Darstellungen eine breite Vermarktung finden: Wo kommen wir her? Warum sind wir so, wie wir sind?

Wie populär diese Fragen geworden sind, zeigen auch die mit steter Wiederkehr auftretenden Titelgeschichten angesehener Magazine, ob zum „Animalischen Erbe des Menschen“ (Spiegel) oder gar zur Frage „Warum Frauen schlecht einparken und Männer nicht zuhören“ (Stern). Der „flachstirnige Vorfahre“ muss dabei abwechselnd – zwischen populärer Karikatur und paläontologischem Rätsel – in mythische Erzählungen oder wissenschaftliche Erkenntnisse „eingepasst“ werden.

Doch wie entstehen die vielen Deutungen und Visionen über den behaarten Ahnen aus grauer Vorzeit? Paläontologen versuchen aus Fossilienfunden die genaue Abstammung des Menschen zu klären. Genetiker wollen heute mit Gensequenzierungen das Gleiche erreichen.

Die Missinglinks, denen die Forschung immer ausgesetzt bleibt, verleiten dazu, aus Knochenfunden oder Gendaten, Theorien abzuleiten, wie die gewisse Urhorde sozial organisiert war, woher Eigenschaften wie Aggressionen stammen oder warum sich bestimmte sexuelle Verhaltensweisen entwickelt haben. In jüngster Zeit versuchen sogar einige Wissenschaftler unseren Sinn für Ästhetik biologisch zu interpretieren: Sinnliche Vorlieben, etwa für sonnige Landschaften hätten wir als Anpassung an unsere archaische Umgebung – in der afrikanischen Savanne – erworben.

Für Biologen wie Winfried Henke von der Mainzer Universität gibt es keine Sonderstellung des Menschen: „Im Tierreich liegen die Erklärungen für unser heutiges Leben“, dozierte er kürzlich auf einer interdisziplinären Tagung in Konstanz und hielt sich an das Zitat des großen Evolutionsgenetikers Dobzhansky: „Nichts macht Sinn …, außer im Licht der Evolution.“

Solche Äußerungen sind normalerweise idealer Zündstoff für interdisziplinäre Missverständnisse und können schnell in hitzigen Kontroversen enden. Denn Geistes- und Sozialwissenschaftler sehen die Erforschung der Natur oft aus einer völlig anderen Perspektive: „Die Natur vor der Kultur ist erkenntnistheoretisch unzugänglich“, meint der Konstanzer Germanist Albrecht Koschorke. Denn wie sollten wir das Werden von Gesellschaft, Sprache und Vernunft beschreiben, ohne dass unsere heutigen Vorstellungen darüber einfließen? Gesellschaften könnten daher ihren eigenen Anfang im Grunde gar nicht denken, gibt der Germanist zu bedenken.

Derartige Kontraste zwischen naturwissenschaftlicher Gegenstandsbestimmung und geisteswissenschaftlichem Konstruktivismus und prägten die an der Konstanzer Universität durchgeführte Tagung „Urmensch und Wissenschaftskultur – Konzeptionen und Funktionen des Urmenschen in den modernen Wissenschaften“. „Wir betrachten das Ganze auch als ein Sozialexperiment“, beschrieb Tilmann Walter, Universität Heidelberg, die Idee, mit Philosophen, Germanisten, Historikern, Genetikern und Paläanthropologen gemeinsam über den Ursprung des Menschen zu diskutieren.

Eine enorme Herausforderung, angesichts der unterschiedlichen Ansprüche der Natur- und Geisteswissenschaften, Fragen wie die Herkunft von Krieg und Gewalt, Kooperation oder den Unterschied zwischen Mensch und Tier zu deuten.

Warum sind wir so, wie wir sind?

Denn bei allen Erklärungen über den menschlichen Ursprung, ob in der Biologie, Philosophie, Geschichte oder Anthropologie, geht es eben nicht nur um einen gewissen Urmenschen, sondern vor allem um die darin implizierten Fragen, warum wir heute so sind, wie wir sind. Was heißt es zum Beispiel, genetisch zu 98 Prozent Schimpanse zu sein? Gab es Gewalt, Krieg und Rachsucht schon in der Urgesellschaft – und sind sie biologisch zu begründen, wie etwa Konrad Lorenz behauptete? Und überhaupt – welche Wissenschaft sollte die Hoheit haben, derartige Phänomene abschließend zu „erklären“?

Konfliktstoff gab es in Konstanz reichlich, angesichts der unterschiedlichen Herangehensweisen in den verschiedenen Wissenschaften. Doch die von manchen erwartete Kontroverse blieb aus. Die geisteswissenschaftliche Kritik an biologischen Deutungen, wie man zum Beispiel von Knochenfunden frühzeitlicher Menschen auf die Theorie käme, dass Eifersucht als „evolutionärer Keuschheitsgürtel“ entstanden sei, verpuffte in allgemeiner Zustimmung.

Aus wissenschaftshistorischer Perspektive konstatierte Peter Bowler aus Belfast ein ständiges Hin und Her zwischen unterschiedlichen Ansichten über das Wesen des Urmenschen während der letzten zwei Jahrhunderte. Abwechselnd hätte man den Urmenschen entweder als kriegsführende Bestie beschrieben oder als edlen Vorfahren, der bereits kulturell entwickelt war.

Der irische Wissenschaftler wundert sich über die Schnelllebigkeit und den narrativen Charakter vieler moderner Evolutionstheorien, wie zum Beispiel zur Frage, ob der Neandertaler ausgestorben ist oder unser Vorfahre war. Für ihn spiegeln sich in naturwissenschaftlichen Hypothesen immer auch die herrschenden Gesellschaftsstrukturen wider. So könne man auch Darwin als „Kind seiner Zeit“ im Einfluss des kapitalistischen Konkurrenzdenkens sehen.

Der Jenaer Wissenschaftsgeschichtler Uwe Hoßfeld berichtete, wie die Evolutionstheorie im Dritten Reich unter politischen Gesichtspunkten rekonstruiert wurde: Ohne handfeste empirische Beweise wurde der Ursprung der Menschheit nach Europa verlegt, um die Überlegenheit der Europäer abzuleiten.

Die Idee der kulturellen Vorbestimmung des Menschen stand im Zentrum der Tagung. Die Literaturwissenschaftlerin Ruth Groh, Uni Konstanz, vermerkte zwar, dass angesichts der Erfolge der modernen Biowissenschaften auch in den Kulturwissenschaften ein „Hang zum Flirt mit der Soziobiologie“ zu verspüren sei. Sie hielt jedoch dagegen, dass wir gelernt hätten, aufzuhorchen, wenn irgendein moralischer oder unmoralischer Zwang aus der Natur abgeleitet wird. „Denn wenn man den Gegenschlag Amerikas auf den terroristischen Angriff mit der Schimpansenmoral ‚wie du mir, so ich dir‘ erklärt, wie der Frankfurter Soziologe Otto Hondrich, dann hätten Kriege wieder eine blendende Zukunft.“Ein derartiger Angriff hätte unter soziobiologischen Hardlinern wohl eine scharfe Provokation bedeutet. Sie konnte indes ungescholten den soziobiologischen Fehlschluss als lediglich eine moderne Variante des naturalistischen“ werten.

Bis auf periphere Streitereien, ob nun die Soziobiologie „schlechte Wissenschaft“ sei oder die Geisteswissenschaftler diese einfach nur nicht verstehen können – oder wollen, prägte die Tagung ein erstaunlich harmonisches Miteinander. Hat man mittlerweile – zumindest in Ansätzen – gelernt, miteinander zu reden und die jeweils andere Kultur zu respektieren? Versuche wie das „Sozialexperiment“ in Konstanz könnten auf Dauer zu einer demokratischeren Wissenschaftskultur führen und das aneinander Vorbeireden ablösen, welches in den so genannten Kulturkriegen zwischen den beiden Wissenschaften so oft auf der Tagesordnung stand.