robin alexander über Schicksal
: Vive la merde

Nicht jeder Franzose ist ein Franzose, manche tun nur so. Wer sollte das besser wissen als ein Deutscher

Es gab einmal eine Zeit, da bezahlten die Menschen noch mit D-Mark und die Jugend hatte noch Mut. Manchmal sogar Übermut. Damals saß ich einmal zu spätester Stunde in einem kleinen Café mit einer Freundin namens Nadja. Der Wirt hatte nach jeder Bestellung „oui“ oder „bien sur“ gesagt, gab also ganz offensichtlich den Franzosen. Da ließ ich mich hinreißen: „Einhundert Mark, dass dieser Mann nicht wirklich ein Franzose ist.“ Topp.

Niemals zuvor in meinem Leben hatte ich um einen solchen Betrag gewettet. Und niemals wieder werde ich es tun. Ich bin gar nicht zum Wetten erzogen, im Gegenteil. „Wer wettet, der betrügt“, weiß der Volksmund. Nein, Deutsche wetten nicht, jedenfalls nicht um Geld. Höchstens um die Ehre. Allerhöchstens um ein Bier.

Aber an diesem Abend hatte ich Sozialisation und Vernunft schon lange ertränkt. Stärker noch als am Alkohol berauschte ich mich an meinen Argumenten: Dieser Wirt ist zu französisch, um wirklich Franzose zu sein. Der spielt nur den Gallier mit aufgeknöpftem Hemd, mit „et voilà“ und „bien“. Der spricht zwar nasal, aber doch mit Berliner Dialekt. Der hat sich doch aus kaputter kultureller Identität und Frankophonie selbst zum Franzosen gebastelt! Darauf fall ich nicht herein. Das klingt ziemlich bescheuert. Und ist es auch. Vor allem weil Nadja selbst Französin ist.

Ich aber redete auf sie ein, wie eben nur von ihrer eigenen Idee begeisterte Männer auf skeptische Frauen einreden können. Meine wirre Überzeugung trug ich in so heißem Brustton vor, dass sie tatsächlich schwankend wurde. Jetzt zweifelte selbst die Französin am Franzosen. Sie erinnerte sich, einmal einen deutschen Gaststudenten in Aix-en-Provence gekannt zu haben, der trotz Körpergröße von zwei Metern einen klapprigen R 5 fuhr, den er völlig überteuert gekauft hatte. Für die Authentizität zahl ich eben drauf, hatte er ihr erklärt. Nadja gab zu: Deutsche sind im Frankreichurlaub die französischeren Franzosen. Bestehen darauf, auch nach dem fettesten Essen noch Käse zu bestellen. Und nehmen sich sechs Flaschen Pastis nach Deutschland mit.

Das Bestreben, sich der Bevölkerung des Gastlandes anzupassen, ist natürlich zum Scheitern verurteilt. Der sich französisch gebende Deutsche enttäuscht gleich doppelt. Erstens, indem er natürlich nie das authentische Franzosentum erreicht, sondern bestenfalls halbwegs annehmbar kopiert. Aber keine noch so gute Kopie findet Gnade vor dem Original, wie kein Epigone vom Künstler ernst genommen wird. Zweitens: Der Deutsche mag in Frankreich ein Problem mit seiner Identität haben, der Franzose hingegen schätzt, wenn überhaupt, das vermeintlich Deutsche im Deutschen. Oder was man in Frankreich so für Deutsch hält. Von Ernst Jünger über Heiner Müller bis zum unvermeidlichen Rammstein, von gotischen Kirchen bis zum Wave-and-Gothic-Festival zu Pfingsten in Leipzig. Wenn Franzosen auf Deutschland stehen, dann so: romantisch, endzeitlich, unironisch.

So ein Deutschlandbild resultiert immer weniger aus der Erfahrung deutscher Besatzung, als aus dem eingeschränkten deutschen Rollenrepertoire in der internationalen Kulturindustrie. Aber wer gegen das verzerrte Bild nicht seine Wirklichkeit setzt, sondern in eine fremde Identität schlüpft – also den Franzosen gibt – macht eine unglückliche Figur.

Trieb dieser Wirt den Wahnsinn vielleicht tatsächlich auf die Spitze? Nadja ging auf die Toilette, puderte sich die Nase, kam zurück an den Tisch und schlug ein. Hundert Mark. Rasch den Wirt herangewunken. Franzose oder nicht Franzose? „Franzose, naturellement.“

Einen Hundertmarkschein aus dem eigenen Portemonaie zu nehmen und einem anderen Menschen zu geben, hat generell eine ernüchternde Wirkung. Vor allem auf Menschen meiner Einkommensklasse. Ich war sofort wieder klar. Vor Scham sprach ich den kurzen Rest des Abends kaum. Schließlich fragte ich doch noch: Was hatte Nadja so sicher gemacht, tatsächlich einen Landsmann vor sich zu haben? „Die Toiletten haben mich überzeugt. Sie waren so ekelerregend wie sie es nur bei echten Franzosen sind.“ C’est ça.

Ein Volk, das einander an seinen beschissenen Klos erkennt, ist ein Volk, das meine Sympathie hat.

Fragen zu Franzosen?kolumne@taz.de