Für Reformen ist der Leidensdruck zu gering

Die Regierung ist für die Situation die falsche, sagt die Deutschlandanalyse des britischen Magazins „Economist“

BERLIN taz ■ Den Deutschen geht es immer noch viel zu gut, deshalb tut sich nichts im Lande. Das ist, in einem Satz, die Meinung des britischen Wirtschaftsmaganzins The Economist. Und Xan Smiley, Herausgeber der europäischen Economist-Ausgabe, legt Wert darauf, dass dies „keine besonders britische Sichtweise ist, sondern eine internationale“. Immerhin erscheint die Wochenzeitschrift mit einer Auflage von 900.000 Exemplaren weltweit in 180 Ländern. Smiley ist auch der Autor einer Deutschlandanalyse, die das Magazin heute veröffentlicht und die gestern vorab in Berlin vorgestellt wurde.

Zu seinen Erkenntnissen kam der Europa-Redakteur auf einer dreiwöchigen Reise durch Deutschland, teils vor, teils nach den Wahlen. „Glauben Sie nicht, ich finde hier alles nur negativ“, sagte er denen, die ein wirtschaftspolitisches Donnerwetters für die Regierung Schröder erwartet hatten. „Einige Dinge an Deutschland schätze ich sogar sehr: Sie haben eine solide Demokratie, eine exzellente Infrastruktur, einen großzügigen Wohlfahrtsstaat und Armut ist viel weniger sichtbar als bei uns in Großbritannien oder in Frankreich.“ Aber darin, so Smiley, liege eben auch das Problem: Zwar jammern alle, doch der Leidensdruck ist noch zu gering, als dass eine Mehrheit der Deutschen für echte Reformen wären.

Weil die großen Parteien das natürlich auch merken, wursteln sie irgendwo in der Mitte rum. Smiley: „Sie geben den Wählern keine echte Alternative.“ Der liberale Economist hatte sich mit seinem Titel „Time for a Change“ vor der Wahl klar für eine CDU/FDP-Regierung ausgesprochen. Nicht wegen den Christdemokraten – „der Stoiber mischt sich in Bayern viel zu sehr ins Wirtschaftsgeschehen ein“. Wohl aber wegen der FDP, die dem Kurs des Economist am nächsten kommt. Am zweitliebsten sind den Briten offenbar die Grünen. Einige der Grünen seien wirtschaftspolitisch fortschrittlicher als die großen Parteien, meint das Magazin. Ob er die Wahlempfehlung bereue? „Nein, im Gegenteil, heute sind wir noch überzeugter, dass die jetzige Regierung die falsche ist.“

Dabei habe Schröder vor vier Jahren ganz gut angefangen: Die Rentenreform, die Steuerreform und die Einwanderungspolitik – „alles Schritte in die richtige Richtung“. Jetzt jedoch herrsche absoluter Stillstand. Die Steuern sind zu hoch, die Arbeitskosten auch, die Auslandsinvestitonen zu niedrig, die Gewerkschaften zu stark. Es sei unverantwortlich, den Menschen vorzumachen, soziale Sicherheit und Wohlstand könnten weiter finanziert werden wie bisher. „Vor allem der Arbeitsmarkt muss reformiert werden. Am sozialsten ist es doch immer noch, den Leuten Arbeit zu geben“, fordert Smiley. Der deutsche Arbeitsmarkt sei der „schwierigste“ in ganz Europa. Von Teilzeitarbeit bis hin zu den Ladenöffnungszeiten – „alles ist bei Ihnen streng reguliert“.

Hier war der liberale Journalist sich gestern ausnahmsweise sogar mit Oskar Lafontaine einig. Der Politprivatier war nach Berlin eingeladen, um die Deutschlandstudie aus seiner Sicht zu kommentieren, ebenso wie der haushaltspolitische Sprecher der Grünen a. D., Oswald Metzger. „Ich baue gerade ein Haus und könnte Ihnen einen einstündigen Vortrag über die Vorschriften zur Treppen- und Geländerhöhe halten“, plauderte der ehmalige Finanzminister aus seinen Erfahrungen mit der deutschen Bürokratie.

Davon abgesehen widersprach Lafontaine dem Economist jedoch in fast allen Punkten: Die Steuern seien nicht zu hoch. Im Gegenteil: Vor der Wiedervereinigung habe die Quote bei 24,8 Prozent gelegen, heute liege sie gerade noch bei 20,8 Prozent. Städte und Gemeinden könnten kaum mehr ihren Aufgaben nachkommen, weil ihnen die Einnahmen fehlten.

Die Gewerkschaften seien nicht zu stark. Im Gegenteil: „Wie können wir zu starke Gewerkschaften haben, wenn wir im internationalen Vergleich immer die niedrigsten Lohnabschlüsse haben?“ Die Arbeitskosten seien ebenfalls nicht zu hoch: „Wie sonst erklären Sie sich, dass wir Exportweltmeister sind?“

Wirtschaftspolitisch solle sich Deutschland an den USA und Großbritannien orientieren – Smiley hatte Spanien und die Niederlande als Liberalisierungs-Vorbilder angepriesen. „In den angelsächsischen Ländern wird konsolidiert, wenn die Konjunktur gut ist. Geht es der Wirtschaft schlecht, drücken die Angelsachsen auf die Tube. Sie haben Zentralbanken, die dies unterstützen – nicht wie bei uns, wo die EZB immer nur auf die Inflation schaut.“ Deshalb, so Lafontaine, müsse die Verfassung der Europäischen Zentralbank grundlegend geändert werden.

Dem widersprach vehement Oswald Metzger: „Die EZB darf keinesfalls auch noch an die Kandare der Politik genommen werden“, warnte der Exparlamentarier. Das sei schon bei viel zu vielen Institutionen der Fall, „angefangen von der unseligen Allianz von Gewerkschaften und Sozialversicherungen“ bis hin zur „Instrumentalisierung des Parlaments“. Um Lösungen ist Metzger, seiner öffentlichen Funktion beraubt, nun nicht mehr verlegen: „Wir müssen den Rentnern an den Geldbeutel! Und den Arbeitslosen!“

KATHARINA KOUFEN