Die häusliche Mänade

In der Zeit mit Françoise Gilot entdeckt Pablo Picasso die Spannung zwischen Heim, Herd, Familie und Politik als neue Inspiration. Mit seiner bislang größten Ausstellung zeigt das Münsteraner Grafikmuseum diesen Lebensabschnitt als eigenständige Periode – die wohl explosivste des Gesamtwerks

Aussichtslos, hoffnungslos: Picassos Werk mit den gängigen kunsthistorischen Kategorien auf eine Chronologie abzubilden, ist ein unmögliches Unterfangen. Für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg mag es noch funktionieren, von Blauen und Rosa Perioden, Kubismus, analytischem Kubismus sowie Klassizismus zu sprechen. Vor dem Spätwerk aber bleibt nur die Kapitulation: Die Palette des Genies kennt alle Farben. Zeitgleich entstehen Werke unterschiedlichster Gattungen. Skulptur, Plastik, Ölgemälde, ça va de soi, dazu kommen die Keramik, die Lithografie und schließlich der Linolschnitt.

Die Bilder verwenden kubistische Vokabeln und expressionistische Strukturen nebeneinander, der künstlerische Furor verbindet sie zu einer ebenso eigenwilligen wie unverkennbaren Sprache. Der einzig passende Sammelbegriff für diese unbändige Vielfalt scheint der Eigenname: Picasso.

Das Versprechen des Namens aber als Ganzes zu zeigen ist unmöglich. Sprich,– das ist die Krux für Ausstellungsmacher –um das Werk rezipierbar zu machen, bedarf es genau jener Beschränkung, die ihm doch so fremd ist. Wäre die Orientierung an schnöden Lebensdaten probat? Skandiert die Zeitgeschichte das Oeuvre?

Kunsthistorisch befriedigender ist die Bresche, die das Grafikmuseum Pablo Picasso Münster nun in das Phänomen Picasso schlägt : In seiner bislang größten Ausstellung zeigt es rund 180 Werke, die zwischen 1943 und 1954 enstanden sind – in der Zeit also, in der Françoise Gilot die Frau unter dem Pantoffel und das bevorzugte Gesicht in den Bildern des Genies war. Und in der, so Kurator Markus Müller, „das Werk die größte Amplitude zwischen Privatheit und politischem Engagement aufweist“: 1945 tritt Picasso in die Kommunistische Partei Frankreichs ein, für Agitprop-Veranstaltungen stiftet er Grafiken – mit dem, um Hammer und Sichel dekorativ ergänzten Konterfei seiner Geliebten. Genauso wie Plastiken und Gemälde eher häuslicher Inspiration beispielsweise – in der Münsteraner Ausstellung präsent – die fast große Bronze „Schwangere Frau“ oder aus Alltagsgegenständen gebastelten Püppchen und Spiezlzeugautos entstehen Figurationen des Tagesaktuellen. Bemerkenswert: das selten gezeigte Porträt Stalins, anlässlich dessen Tod 1953. Reverenz, die den Parteiausschluss des Künstlers provoziert.

„Für Picasso scheinen die Sphären nicht zu konkurrieren“, erläutert Müller. „Er übernimmt auch die Züge seiner Geliebten für Gesichter von Mänaden, also griechischen Quellnymphen, und stellt die Geburt seiner Kinder in mythologischen Blättern dar.“

In direkt benachbarten Räumen vermag die Schau gegenseitigen Einfluss und die Spannung zwischen privatem und öffentlichem Leben zu rekonstruieren –und die Frage nach dem Übergang zwischen ihnen zu stellen. Was sie verbindet? „Vielleicht “, vermutet Müller „ein schwer fassbarer Begriff des Glücks.“

Zugleich hat die „période Françoise“ – so die Münsteraner Begriffsschöpfung, analog zur französischen Benennung der letzten Lebensjahre nach der Altersgeliebten Jacqueline Roque – auch leicht fassbare Charakteristika: Das Frontalporträt etwa, bis dahin nur in raren Ausnahmen zugegen, wird bestimmend. „Es scheint“, schreibt der Kunsthistoriker Erich Franz im instruktiven Katalog, „als hätte Picasso auf das Gesicht von Françoise Gilot gewartet.“ Verschwunden sind die düster-meditativen Stillleben der Besatzungszeit, schnelle Linien und eine vitale Farbigkeit kehren zurück, etwa in dem eindrucksvollen, eigens für die neue Exposition rekonstruierten Gemälde „Frau mit gelber Halskette“, das erstmals öffentlich zu sehen ist. Picasso entdeckt die Keramik für sich. Und Fernand Mourlot –Meister des Steindrucks, zu dessen Stammkunden Henri Matisse, Fernand Léger und Marc Chagall zählen – weckt seine Leidenschaft für die Lithografie. Picasso besucht ihn erstmals am 2. November 1945. Das erste von mehr als 800 Blättern aus der Zusammenarbeit entsteht: Die Lithografie „Frauenkopf“. Sie zeigt: Françoise Gilot. „Das hat den Zeitabschnitt für uns natürlich besonders attraktiv gemacht“, sagt Müller: Hervorgegangen aus der Sammlung Huizinga, verfüge sein Museum „über das gesamte grafische Werk“. In dessen inneren Zusammenhang eröffnet die mit der Ausstellung ersonnene und belegte Periodisierung neue Einsichten. Die Benennung nach der Geliebten aber sollte, als späte und subtile Rache, konsequent aufs Gesamtwerk ausgeweitet werden: période Françoise, période Dora, période Mama ... Dann stünde ein für alle Mal fest: Ohne seine Frauen wäre Picasso vielleicht noch immer ein Genie. Nur wahrnehmbar wäre er dann nicht. Benno Schirrmeister

Die Zeit mit Françoise Gilot, Grafikmuseum Pablo Picasso Münster, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr. Bis 16. Februar 2003