Die Bruderschaft der Toten

Das Recht auf einen würdigen letzten Weg: Seit fast 900 Jahren bestatten die Ehrenmänner der Charitablen in Südflandern Reiche und Arme kostenlos nach dem gleichen uralten Ritual. Eine Stück europäische Geschichte, das mit der Pest begann

von ROBERT B. FISHMAN

Südflandern im Sommer 1188. In den Rinnsteinen der engen Gassen stapeln sich die Toten. Niemand will sie beerdigen – aus Angst vor Ansteckung. Wer noch gehen kann, sucht Schutz in den Kirchen. Andere Verzweifelte ziehen in der Hoffnung auf Erlösung durch die Straßen und schlagen sich ständig mit Peitschen auf ihre schon blutigen Rücken. Die vom Verwesungsgeruch vergiftete Luft macht das Atmen zur Qual. In der Grafschaft Artois hat die Pest ganze Dörfer ausgelöscht. In der Hauptstadt Arras stirbt jeder Zweite an der Seuche. Ratten verbreiten das Virus immer schneller. Hilfe gibt es keine. Da erscheint zwei Männern im Traum der Heilige Eglisius: „Geht nach Béthune, bestattet die Toten, und helft denen, die noch leben“, sagt er ihnen. Germon de Beuvry und Gauthier de Béthune machen sich gleichzeitig auf den Weg. An einer Quelle vor dem Festungsstädtchen Béthune begegnen sie sich zufällig, erzählen einander von der Erscheinung des Heiligen und beschließen, gemeinsam zu helfen.

Seitdem bestatten Ehrenmänner, die Bruderschaften der „Charitablen“, im heute nordfranzösischen Artois die Toten kostenlos und ohne Ansehen von Herkunft, Vermögen und Religion nach einem seit 1188 fast unveränderten Ritual.

Nach der Messe, an der sie schweigend in ihren schwarzen Uniformen teilnehmen, tragen vier Charitable den Sarg aus der Kirche auf ihren Holzwagen und schieben ihn in einer stillen Prozession, gefolgt von den Hinterbliebenen, zum Friedhof. Auf dem Kopf tragen sie schwarze Zweispitzhüte aus Filz, dazu einen schwarzen Frack, schwarze Hosen, schwarze Schuhe, ein blauweißes Hemd mit weißer Fliege und weiße Handschuhe. Ein Bruder geht voraus und bahnt dem Trauerzug den Weg durch den Verkehr. Vier weitere schieben das Fuhrwerk mit dem von einem violetten Leichentuch bedeckten Sarg. Dafür gab ihnen der französische Staatspräsident eine Ausnahmegenehmigung, nachdem die Europäische Union offene Leichentransporte durch Städte verboten hatte.

„Ob Muslime, Christen, Atheisten, Reiche oder Arme, vor dem Tod und für uns sind alle gleich. Alle haben das Recht auf ein würdiges Begräbnis,“ erklärt der Vorsitzende der 60 Béthuner Charitablen, Marc Pécourt, unter dem Bild der Gründer Germon und Gauthier das Ehrenamt seiner Bruderschaft. Manchmal sind die Charitablen die Einzigen, die zum Beispiel einen Obdachlosen auf seinem letzten Weg begleiten.

Aufgenommen wird, wer einen moralisch einwandfreien Lebenswandel nachweist und in der Bruderschaft einen Fürsprecher findet. Wenn dann der Prévot, der Vorsitzende, seine Zustimmung gegeben hat, keiner der Mitbrüder widerspricht und die Ehefrau des Kandidaten einverstanden ist, trägt sich das neue Mitglied feierlich in das seit 1728 geführte „Buch der Charitablen“ ein.

Schwestern gibt es keine. „Jeder muss den Sarg tragen können“, und das sei doch für Frauen zu schwer, gibt der Prévot zu bedenken und fügt schmunzelnd hinzu: „Glauben Sie, dass die Bruderschaft 800 Jahre überstanden hätte, wenn sie Frauen aufgenommen hätte?“

Wer weiß. Die Bruderschaft hat Kriege überlebt, Besatzer, Königreiche und Revolutionen. 1789 verboten die französischen Revolutionäre die Charitablen. Die machten heimlich weiter, ebenso wie unter der deutschen Besatzung zwischen 1940 und 1944. Die 65 Opfer des alliierten Bombenangriffs auf das Béthuner Bahndepot bestatteten sie trotz Verbots nach ihrem Ritual. 650 Brüder waren dazu aus dem ganzen Artois zusammen gekommen. Die Besatzer ließen sie dann doch gewähren.

Inzwischen gibt es im Artois noch 47 Bruderschaften, die größte, mit 60 Mitgliedern, in Béthune. Der Jüngste ist hier 45, die meisten sind längst in Rente. „Für Berufstätige ist es schwierig. Sie müssen mindestens einen halben Tag in der Woche zur Verfügung stehen“, erklärt der Vorsitzende. „Meine Eisenwarenhandlung hatte mittwochs vormittags geschlossen. Da hatte ich Zeit und trat der Bruderschaft bei“, erinnert sich der 69-Jährige, der sein Ehrenamt liebt: „Wir halten zusammen, sind füreinander da“, lobt Pécourt seine Brüder, die zum Beispiel drei Monate lang den Fahrdienst für einen Kranken übernommen haben. Abwechselnd fuhren sie die Frau eines Confrère jeden Tag die 40 Kilometer nach Lille, damit sie ihren Mann in der Klinik besuchen konnte.

Das Wichtigste ist für die alten Herren, wie sie alle bestätigen, als Rentner noch gebraucht zu werden und etwas für andere tun zu können. Wenn der als gemeinnützig anerkannte Verein mehr Spenden bekommt, als er für seine Arbeit benötigt, unterstützen die Brüder Notleidende. Ein Junge zum Beispiel brauchte sofort Sicherheitsschuhe, damit er seinen Job auf einer Baustelle behalten konnte. Weil er kein Geld und die Charitablen noch etwas in der Kasse hatten, kauften sie ihm die Schuhe. Auch das Baby, das von seinen kranken Eltern tagelang vernachlässigt wurde, retteten die Charitablen. „Meist reagieren wir auf Notrufe von Sozialarbeitern“, berichtet der Prévot. Im letzten Jahr sind die Charitablen 180-mal eingesprungen.

Die Charitablen weisen vor jeder ihrer kostenlosen Beerdigungen mit einem freundlichen Schreiben auf die Möglichkeit hin, für das soziale Engagement der Bruderschaft zu spenden. Dafür sparen die Familien der Toten immerhin rund 250 Euro für die Sargträger. Einmal im Jahr verteilen die Brüder Brotgutscheine an die rund 25.000 Béthuner. Viele kommen, um sich die von Bäckern gestifteten Brötchen abzuholen und zahlen eine Spende für die Brüder ein.

Vor jeder Beerdigung kontrolliert der Zeremonienmeister, ob alle die Tracht der Charitablen korrekt angezogen haben. Wenn etwas fehlt, ein Hemd nicht sauber oder ein Knopf nicht geschlossen ist, kostet das jeweils einen „Strauß“ – eine „Strafe“ von 40 Cent. Wer sich während des Trauerzugs durch die Stadt unwürdig benimmt oder die Figur des Schutzheiligen nicht grüßt, muss ebenfalls zahlen.

Der Heilige Eglisius hat die Confrères fast 900 Jahre beschützt: Noch nie hat sich einer der Brüder bei einer Beerdigung mit einer Krankheit infiziert. Auch die beiden Gründer, Germon de Beuvry und Gauthier de Béthune, blieben von der Pest verschont. Kurz nachdem die Charitablen im Sommer 1188 ihre Arbeit begonnen hatten, verschwand die Seuche aus Béthune. Ob das nun am Schutzheiligen lag oder daran, dass die Brüder die auf den Straßen liegenden Leichen bestattet hatten?