Tempo 200. Jeden Tag.

„Nachher kriegst du das Restgeld zurück“, sagt der Grenzer. Das heißt: „Weiterfahren!“

von der Route Budapest–Moskau KENO VERSECK

Am Freitagnachmittag um kurz vor drei zieht Mischa Krawtschenko den Draht durch die Ladetür und steckt die Plombe auf. Kurz darauf kommt der Zollbeamte mit der Zange und klemmt sie fest. Nun noch die Papiere, vielleicht in zehn Minuten, dann kann Mischa Krawtschenko endlich losfahren.

Er ist jetzt in Nagykörös, in Mittelungarn, 80 Kilometer südöstlich von Budapest. Vor drei Tagen, am Dienstagnachmittag, hat ihn die Spedition aus Mukatschewo in der Westukraine, nahe der ungarischen Grenze, mit dem leeren Sattelschlepper losgeschickt. Er sollte in Debrecen, einer ostungarischen Großstadt, Fleischwaren für die Moskauer Firma Pannonia laden. Mischa Krawtschenko ist den Weg schon öfter gefahren. Wie üblich brauchte er einen ganzen Tag für die 200 Kilometer von Mukatschewo bis Debrecen.

Der ungarische Grenzer faselte diesmal etwas von schlechten Reifen. Irgendeinen Vorwand, sagt Mischa Krawtschenko, finden sie an der Grenze jedes Mal, um damit zu drohen, ihn zurückzuschicken. Er drückte dem Grenzer die üblichen 20 Dollar in die Hand, die ihm der Speditionschef in Mukatschewo für diesen Zweck immer gibt. Dann konnte er weiterfahren.

Das Warenlager des Debrecener Fleischgroßproduzenten Hajdú Bét Rt. war am Mittwochnachmittag schon geschlossen. Einladen Donnerstagmorgen, mittags waren die Papiere fertig. Zum Freizolllager nach Cegléd in Mittelungarn, 160 Kilometer, drei Stunden. Die Angestellten hätten ihm die Papiere für das Zollamt im 20 Kilometer entfernten Nagykörös schnell fertig gemacht, aber das Fax aus Moskau über die Bezahlung der Ware war noch nicht angekommen. Freitag, elf Uhr. Das Fax war da. Mischa Krawtschenko bekam die Papiere. Die Ware galt jetzt als exportiert und exterritorial. Er fuhr zum Zollamt Nagykörös.

Auf einem staubigen Parkplatz, auf dem Lastwagen aus Serbien, Rumänien, der Ukraine und Russland stehen, wartet Mischa Krawtschenko auf seine Dokumente. Er brät Spiegeleier und Dauerwurst auf dem Gaskocher.

Vielleicht schafft er die 390 Kilometer und die ungarisch-ukrainische Grenze bis Sonntagnacht. Dann könnte er im Dorf bei Mukatschewo noch kurz seine Frau besuchen, bevor er nach Moskau weiterfährt. Mischa Krawtschenko ist 29 Jahre alt, hat einen siebenjährigen Sohn und ist höchstens vier, fünf Tage im Monat zu Hause. Da zählt jede Stunde, sagt er.

Drei Uhr. Vor ein paar Minuten hat Mischa Krawtschenko seinen Lkw verplombt. Der Zollbeamte erscheint mit einem Stapel Papieren und zeigt auf den Posten mit den gefrorenen Hähnchenschenkeln. Er möchte einige Kartons der Ware sehen. Denn für Hähnchenschenkel zahlt der ungarische Staat Exportsubventionen. Vielleicht aber liefert die Firma Hajdú-Bét Rt. aus Debrecen in Mischa Krawtschenkos Sattelschlepper gar keine Hähnchenschenkel, sondern etwas anderes, während sie die Subventionen kassiert. Ein alter Trick.

Mischa Krawtschenko versucht, in einem Kauderwelsch aus Russisch und Ungarisch zu argumentieren. Vergeblich. Halb vier machen wir Schluss, sagt der Beamte und geht. Mischa Krawtschenko reißt den Plombendraht ab und kriecht in den Kühlcontainer. Minus 20 Grad. Er hat zehn verschiedene Fleischsorten geladen. Als er die Hähnchenschenkel endlich gefunden hat, ist es nach halb vier, das Zollamt hat geschlossen. Mischa Krawtschenko spuckt aus. Schweigend fährt er zurück zum Freizolllager Cegléd und verbringt dort das Wochenende.

Am Montag früh um zehn zeigt er die Kartons mit den Hähnchenschenkeln beim Zollamt in Nagykörös vor, erhält eine neue Plombe und alle Papiere. Fünfeinhalb Tage für 390 Kilometer. Vor ihm liegen 2.000 Kilometer bis Moskau.

László Somogyi, 42, sitzt in seinem Budapester Büro, schüttelt entnervt den Kopf und sagt, es sei immer dasselbe, er kenne das schon. Seine Außenhandelsfirma Somafis, die er zusammen mit seiner Schwester Katalin Fischer, 55, betreibt, wickelt das Fleischgeschäft für Moskau ab (die taz berichtete gestern).

Warenlieferungen im Auftrag von Firmen, eigener Auf- und Weiterverkauf von Getreide, Fleisch, Butter, Zucker und anderen Lebensmitteln sind die Haupttätigkeit von Somafis. Seit einiger Zeit stagniert das Geschäft allmählich. Vor allem seit diesem Jahr und vor allem das Geschäft mit dem Osten, mit den GUS-Staaten, das bis Mitte der Neunzigerjahre für Somafis so lukrativ war. Ungarische Lebensmittelproduzenten können mit den hoch subventionierten Waren in EU-Ländern nicht konkurrieren, denn der ungarische Staat kann sich Agrarsubventionen nur in sehr viel geringerem Maße leisten.

Hinzu kommt, dass Ungarn seine Ostmärkte nach 1990 weitgehend verloren hat. „Ungarn ist stolz, dass es mittlerweile drei Viertel seines Handels mit der EU abwickelt“, sagt László Somogyi. „Aber je näher wir der EU kommen, desto schwieriger wird es für Ungarn, der Konkurrenz standzuhalten, vor allem im Lebensmittelbereich. Deshalb war es eine Dummheit, die ehemalige Sowjetunion zu vernachlässigen. Dort waren ungarische Produkte immer sehr gefragt und beliebt. Früher waren alle großen ungarischen Firmen in der Moskauer Handelsvertretung. Heute arbeitet sie kaum noch.“

Auch der Fahrer Mischa Krawtschenko handelt ein wenig. Aber es ist nicht mehr als eine Schnäppchenjagd. Fast fünf Stunden ist er mit seinem dunkelgrün angestrichenen Kamas-Lkw aus alten russischen Armeebeständen gefahren, ohne anzuhalten, meistens mit 50 bis 60 Stundenkilometern, mal auch mit Höchstgeschwindigkeit 80 über ungarische Landstraßen gedröhnt. Nach 230 Kilometern, am Stadtrand von Nyíregyháza, der letzten ostungarischen Großstadt vor der Grenze zur Ukraine, sagt er: „Bei Tesco halten wir an.“

Es ist ein riesiger Supermarkt. Auf dem Parkplatz steht schon ein Dutzend Lastwagen aus der Ukraine. Die Fahrer kaufen bei Tesco alles ein, was daheim teurer ist. Mischa Krawtschenko kommt, beladen mit Waschmittelsäcken, 10-Liter-Ölflaschen, Süßigkeiten und einigen Getränken aus dem Supermarkt heraus. Sofort geht es weiter.

Nach gut einer Stunde ist die Grenze in Sicht. Genauer: das „Euro-Tor“ – ein riesiges Gelände, auf dem die Lkws vor einer überdimensionalen, triumphbogenförmigen Halle auf ihre Abfertigung warten, damit sie nicht auf der Landstraße vor dem eigentlichen Grenzübergang kilometerlange Staus bilden. Mischa Krawtschenko bekommt eine Nummer, die er hinter die Windschutzscheibe steckt. Er parkt ein, gibt seine Papiere an den Schaltern des Euro-Tors ab, duscht in dem kleinen Waschraum am Rande des Geländes und isst noch ein Bohnengulasch in der Imbissbaracke. Dann heißt es warten und schlafen. Es ist Montagabend halb acht.

Um Mitternacht schlägt jemand mit der Faust an die Fahrertür. Mischa Krawtschenko fällt fast aus seiner Koje auf den Fahrersitz, startet den Lkw und zündet sich gleichzeitig eine Zigarette an. Verschlafen fährt er in die Halle. Nach einer halben Stunde Warten am Schalter reicht eine ungarische Zollbeamtin ihm die Papiere heraus. Nach einer weiteren halben Stunde formiert sich der Konvoi aus 20 Lkws, vorn und hinten begleitet von Grenzpolizeiwagen.

Die Passkontrolle auf der ungarischen Seite dauert nur ein paar Minuten. Auf der ukrainischen Seite lässt sich der Beamte Zeit. Nachdem er Krawtschenkos Pass hin und her gewendet hat, fragt er: „Hast du Euromünzen? Mein Chef sammelt sie.“ Mischa Krawtschenko kramt schweigend einen 5-Euro-Schein aus der Tasche und reicht ihn ins Häuschen. Der Grenzer lächelt. „Ich geh ihn wechseln, nachher kriegst du den Rest zurück.“ Krawtschenko hebt die Hand zum Gruß. Er weiß, „nachher“ bedeutet: „Weiterfahren!“

Bis der Konvoi am ukrainischen Abfertigungsterminal angekommen ist, sind anderthalb Stunden vergangen. Anders als beim Euro-Tor muss Krawtschenko hier nicht einfach alle Papiere abgeben, sondern sich in einem langen Gang an zehn Schaltern je einen Stempel geben lassen. Einen vom Zoll, einen der ukrainischen Transportbehörde, einen vom Veterinäramt, einen der Quarantänebehörde und so weiter und schließlich einen Kontrollstempel für alle Stempel. Lange mustern die Beamten die Papiere. Bevor sie ihren Stempel aufdrücken, fragen die meisten: „Hast du zehn Griwni?“ Das sind immerhin nur zwei Euro. Mischa Krawtschenko sagt: „Manchmal nehmen die Beamten auch einige Kartons der Ware, die im Lkw ist. Muster nennen sie das. An dieser Grenze hört eben die Zivilisation auf.“

Als Krawtschenko alle Stempel hat, ist es sieben Uhr morgens. Er kann endlich losfahren. Ein Soldat am Ende des Terminals wirft einen letzten Blick auf alle Stempel und öffnet den Schlagbaum.

Mischa Krawtschenko fährt an Mukatschewo vorbei und biegt nicht in sein nahe gelegenes Heimatdorf ab. Jetzt zählt jede Stunde – nicht die zu Hause, sondern die für den Chef und für die Moskauer Firma. Wenn alles gut geht, ist er in drei Tagen in Moskau. „Normal sind fünf“, sagt Mischa Krawtschenko. Bei der Frage nach dem ukrainisch-russischen Grenzübergang schüttelt er nur den Kopf. Er beneidet seine Kollegen im Westen. „In der Zeit, in der ich einmal von Ungarn nach Moskau fahre, schaffen die Berlin–Madrid dreimal.“