Keine Milch für die Schlangen

Ein Hinduführer im indischen Bundesstaat Gujarat hetzt gegen die Muslim-Minderheit. Er findet großen Anklang bei Wählern und Regierung

aus Ahmedabad BERNARD IMHASLY

Ein Mann flieht mit einem Kind aus einem brennenden Slum. Als er den Sperrgürtel von Brandstiftern und johlendem Publikum erreicht, wird er aufgehalten und gefragt, ob er Hindu sei. Er bejaht und weist sich aus. Ob das Kind auf seinem Arm ein Muslim sei? Nein, auch dies sei ein Hindu. Sie werden durchgelassen. Einige Schritte weiter beginnt das Kind zu weinen und schreit nach „Abba“. Jemand hört es, der Mann wird gestellt, das Kind wird ihm aus den Armen gerissen und vor seinen Augen erstochen. „Abba“ ist der Kosename für Vater – in Urdu, der Sprache der Muslime.

Solche Geschichten bekommt zu hören, wer dieser Tage Gujarat besucht, neun Monate nach dem schlimmsten Pogrom im unabhängigen Indien und kurz vor den heutigen Provinzwahlen. Überall sprechen die Opfer von brandstiftenden Mobs, von panischer Flucht in Felder oder Hinterhöfe, von der Umzingelung durch junge Männer mit dreigezackten Dolchen und Stirnbändern, dem Herunterreißen von Kleidern und sexueller Gewalt. Das Pogrom war die Antwort auf das Massaker vom 27. Februar, als ein muslimischer Mob beim Bahnhof der Kleinstadt Godhra einen Pilgerzug in Brand steckte und 58 Menschen, die Hälfte davon Frauen und Kinder, in den Flammen starben.

Neben der Regierungspartei BJP hatte auch der „Vishwa Hindu Parishad“ (VHP), der „Welt-Hindu-Rat“, zum Generalstreik am 28. Februar aufgerufen, der die Gewaltorgie auslöste. Dr. Pravin Togadia, VHP-Generalsekretär und für viele ein Drahtzieher der Massaker, sieht nicht wie ein Fanatiker aus. Togadia ist Krebsarzt und besitzt in Ahmedabad eine eigene Klinik. Er gibt sich geschäftsmäßig.

Hasst er die Muslime? Nein, er bedauert sie. „Sie sind ein Opfer der fanatischen Tablighi-Sekte geworden. Überall breitet sich ein talibanartiger Islam aus, der die modernen Nationen gefährdet. Indien hat bereits Afghanistan und Pakistan an den Islam verloren, und nun steht er vor unserer Tür.“ Für Togadia war Godhra „eine Kriegserklärung. In Kaschmir sind bereits 40.000 gestorben. Wenn unsere Armee nicht einmal Kaschmir schützen kann, dann bleibt den Hindus nichts übrig, als zurückzuschlagen.“ Togadia sieht die indischen Muslime nicht als Minderheit, die immer mehr ins ökonomische und soziale Abseits gerät. Im Gegenteil, dank der Hilfe der „Säkularisten“ – in Togadias Mund ein Schimpfwort – „führen sich die Muslime wie eine Supermehrheit auf.“

Die Muslime als die Schuldigen der Unruhen in Gujarat? „Vergessen Sie nicht, allein in Gujarat gibt es 100.000 Koranschulen, die Hass predigen. Godhra war ein Komplott. Haben Hindus denn kein Recht, auf Gewalt zu reagieren?“ Und die rund 2.000 Toten, in ihrer großen Mehrzahl Muslime, die 250 vergewaltigten Frauen, alles Musliminnen? „Es war eine Panikreaktion. Normalerweise ist der Hindu gewaltlos.“

Togadia, Sohn eines armen Bauern, ist im hinduistischen Kaderverband RSS groß geworden, der im Hintergrund die Fäden zieht. Von ihm hat auch er das tief sitzende Gefühl der Schwäche der Hindus, die die Unterjochung durch islamische Invasoren und die britische Kolonialherrschaft hingenommen hätten. Während Togadia das Bild des Muslims als eines hinterhältigen Gegners malt, entschlüpft ihm für die Hindus der Ausdruck „Feiglinge“. „Wir füttern Hunde mit Brot, wir geben Schlangen Milch“, sagt er verächtlich. „Ob gewaltlos oder gewalttätig – das Sklavendasein muss nun ein Ende haben. Haben Hindus kein Recht, zornig zu sein? Wir sind, im Gegensatz zum totalitären Islam und Christentum, pluralistisch. Aber wenn es darum geht, Indien zu verteidigen, die letzte pluralistische Gesellschaft der Welt, muss Pluralismus auch aggressiv sein.“

Dies ist die Lehre, die der VHP in seinen 38.000 Lokalvereinen mit fünf Millionen Mitgliedern sowie Vertretungen in 127 Ländern verkündet. Togadia redet verächtlich über die politischen Parteien, die eigene BJP eingeschlossen. „Sie sind alle nur politisch ausgerichtet. Der VHP dagegen will die totale gesellschaftliche Umgestaltung.“ Dazu dienen ihm nicht nur Schlägertrupps, sondern auch rund 90.000 Hilfslehrer, die der RSS in Schulen mit zu wenig Personal schickt. In Gujarat bagatellisieren deshalb heute viele Hindus das Pogrom als verdiente Lektion für die Muslime und machen diese gleich noch dafür verantwortlich.