Eins, zwei, drei – und dann der Schuss!

Wie ist es, mit dem Gewehr auf andere zu zielen?, wollte die Berlinische Galerie wissen. Ein Selbstversuch

Der Ausstellungsmacher versichert: „Das ist kein Aufruf ‚Amok für alle!‘ “

Jetzt habe ich sie genau im Visier. Sie trägt eine rote Jacke, eine schwarze Hose, ihr braunes Haar ist zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ich stelle scharf. Ihr Kopf im Fadenkreuz meines Zielfernrohrs, ganz nah. „Schieß doch!“, ruft ein Mann mir zu. Ich zögere. Das Gewehr ist schwer, der Abzug kalt – mein Arm beginnt zu zittern. Dann drücke ich ab.

Nichts passiert. Gott sei Dank. Mein Opfer geht weiter zum nächsten Bild, verschwindet hinter einer Säule in der Ausstellungshalle. Erleichtert setze ich das Gewehr ab. Es ist nur ein Ausstellungsstück: ein altes Jagdgewehr aus abgeschabtem Holz mit einem langen Metalllauf. „Bitte nicht auf Menschen schießen!“ heißt die Installation des Künstlers Fritz Heisterkamp in der Ausstellung „HOTEL Berlinische Galerie“ im ehemaligen Glaslager an der Alten Jakobstraße in Kreuzberg.

Ich sage der Frau, dass ich auf sie geschossen habe. Sie starrt mich an und weiß nicht, wie sie reagieren soll. Ich frage, ob sie nicht auch mal schießen will. Revanche sozusagen. Sie kommt mit auf die Balustrade, von der aus man die riesige Ausstellungshalle überblicken kann. Das Gewehr lehnt am Geländer. Zögernd hebt sie es an die Schulter, blickt durchs Zielfernrohr, schwenkt langsam durch den Raum. Doch ihre Hand geht nicht zum Abzug. „Jetzt schieß doch mal!“, sagt ihr Freund. Sie tut es nicht. „Schieß du doch!“

Er tut’s. „Man hat dieses „Sniper-Gefühl“: Die Menschen sind so weit weg, dass du keinen Bezug zu ihnen herstellst. Alles ist so abstrakt. Da schießt es sich leichter. Dieses Gefühl des Zielens und Abdrückens hat auf jeden Fall einen Reiz. Wo kann man so was schon mal erleben?“

Darum geht’s hier: Selbst erleben. Berechnender Täter und ahnungsloses oder wissendes Opfer sein. „Wenn du weißt, das jemand auf dich zielt, ist das natürlich noch schlimmer. Das ist ein Scheißgefühl. Das macht mich aggressiv. Auch wenn die Waffe nicht geladen ist. Man weiß ja nie“, sagt der Schütze, der selbst zum potenziellen Opfer wird, sobald er die Balustrade verlässt. Jetzt könne er jedenfalls nicht mehr unbefangen durch die Ausstellung schlendern.

Ziel erreicht. Das war es, was die Veranstalter wollten. „Das ist kein Aufruf ‚Amok für alle!‘. Wir wollten gewisse Reize thematisieren, die man sich nicht gerne eingesteht, weil sie gesellschaftlich tabuisiert sind. Sie widersprechen der Verfassung, der Gesetzgebung, gesellschaftlichen Grundwerten. Trotzdem sind sie da, und man sollte lernen, damit umzugehen“, sagt Christopher Mühlenberg, einer der Organisatoren. „Vielleicht kommt man tatsächlich einmal in eine prekäre Situation. Dann ist es gut, wenn man sich mit dem Thema schon auseinander gesetzt hat. Sonst reißt vielleicht der Faden und man knallt wirklich durch …“

Die Debatte um Gewaltdarstellung in der Kunst – ob gewaltverherrlichend und zur Nachahmung anregend oder nach dem künstlerischen Freiheitsprinzip eine offene Auseinandersetzung mit allem fördernd – ist hier nicht das Thema. Braucht sie auch nicht. Selbsterfahrung reicht. Zumindest bei mir. Die Hemmungen, auf andere zu schießen – ich habe sie überwunden. Jedoch nur, weil ich wusste, dass das Gewehr nicht geladen ist. Konnte ich sicher sein? Zügig verlasse ich die Ausstellung. Auf meinem Weg durch die Halle behalte ich mit einem Auge die Balustrade im Blick. Schnell trete ich durch den Ausgang ins Foyer. Sehr schnell, bevor der nächste mich ins Visier nimmt.

BIANCA KOPSCH

HOTEL Berlinische Galerie, Glaslager, Alte Jakobstraße 124–128, 12–22 Uhr, noch bis 15. 12.