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Trümmer, die nicht vergehen wollen

Als Schauspieler setzt Thomas Thieme auf die großen Verlöschenden des Theaters: King Lear, Faust – Figuren mit flackerndem Feuer, nahe am Wasser gebaut. Heute Abend inszeniert der 54-Jährige einen Asozialen in Weimar: Brechts Baal. Ein Porträt

von FRITZ VON KLINGGRÄFF

Thomas Thieme leidet. Die Krone auf seinem kahlen Schädel hängt auf halb acht. Aber es ist viel später am Abend. In der Schaubühne am Lehniner Platz steht der König der Leiden, „L. – king of pain“, und hat nichts vom Hiob und schon gar nichts vom ewig jungen Christus. Der König ist stehend k.o., aber noch kämpft er, wähnt sich am Leben, und die Welt steht so lange mal still.

So ist das, wenn der König tot ist und kein lebendiger König in Sicht. Selbst Edgar, der Thronfolger, ist hier, in Percevals „Lear“- Inszenierung mit Thieme, einfach weg. Das ist keine angenehme Situation für Lears Königreich: Die Welt ist in der Schwebe, Tendenz fallend. Aber Thomas Thieme fängt sie schon auf. Thomas Thieme ist der richtige Münchhausen für diese Rolle an diesem Platz. Die richtige Figur im falschen Spiel sozusagen. Denn Thomas Thieme füllt aus. Mit seinem Fleisch – mit einer Körperfülle, deren schleppende Schläge tödlich wirken – steht er tief unten im Halbrund der Bühne am Berliner Kurfürstendamm. Und mit versoffener Stimme grölt er den königlichen Abschiedsschmerz Shakespeares auf ein Zeitalter, das vom Glück einmal reichlich gehabt haben soll. „Es ist unmöglich, das Glücksverlangen der Menschen ganz zu töten“, schreibt Brecht zum „Baal“.

So ist der Thieme. Ein Schauspieler mit einem Absolutheitsanspruch, der zu verlöschen nicht aufhören will. Jetzt hört man ihn aus dem Off. „Faust ist doch ein durchgeknallter Bildungsbürger. Er steht vor den Trümmern eines Lebens. Genauso Lear. Alles bricht auseinander bei ihm: seine Familie, sein Verstand, alles. Faust und Lear verlöschen. Baal lebt noch. Baal hat mehr Physis als Leid.“

Baal ist heute Abend in Weimar. Aber Thieme spielt ihn nicht. „Nicht mehr.“ Bei „Baal“ führt er Regie. Natürlich hat er ihn mal gespielt, bei Manfred Karge am Burgtheater. „Ich habe fast alles gespielt.“ Jetzt spielt er Lear, Faust, Figuren mit flackerndem Feuer, nahe am Wasser gebaut. „Faust und Lear verlöschen. Richard III. ist der Letzte, den ich gespielt habe, der noch etwas erlebt hat.“

Das sind so Figuren, wie sie einem alternder Baal von 54 Jahren wohl angemessen sind, findet Thomas Thieme. Eine angemessene Haltung, gerade wenn man so fehl am Platz ist wie dieser Lear an der Schaubühne. „Bei mir spielt sowieso alles in der DDR, wenn nicht sogar in Weimar. Eine tief sitzende Sentimentalität hält mich hier.“ Was also hatte diesen Schauspieler aus dem Osten, den Schauspieler, der an allen deutschsprachigen Bühnen zwischen Magdeburg, Wien und Bochum zu Hause ist, auf diese abgetretene Westbühne am Ku’damm getrieben? – Ein Gastspiel, wäre die richtige Antwort. Doch muss man sie bildlich nehmen. Die Schaubühne am Lehniner Platz ist – wie der Lear – Vergangenheit, die bundesdeutsche Vergangenheit, die nicht abtreten will. Thomas Thieme, der Anfang der Achtzigerjahre rübermachte, hat jetzt in seinem Gastspiel im Herbst die große Allegorie auf ein verflossenes Königreich darauf gebaut.

Wer Luc Percevals „L. – king of pain“, wer Thomas Thieme an der Schaubühne am Lehniner Platz erlebte, sah jede Menge leidender Physis, Tendenz fallend. Diese entgeisterten Körper auf der Bühne sind inzwischen Thiemes Metier. „Den Lear konnte ich nicht spielen“, sagt er. „Das ist ja keine normale Rolle. Lear ist ein Spuk.“ Erst im Alter von 54 Jahren ist er – unter Perceval – für Thieme spielbar geworden.

Jetzt aber sitzt Thomas Thieme nicht in Berlin, sondern wieder einmal in Weimar. An einem zahmen Ort, nebenbei seinem Heimatort, wenn man so will. Hier hat er seine Fleischerei Blässe, seinen Kunsthändler Hebecker mit den alten DDR-Größen und sein Theater, wo er zwischen Abi, Volksarmee und Schauspielschule Ernst Busch die Kulissen verschob. Hier, zu Hause, leistet er sich jetzt den Baal, den Asozialen in einer asozialen Gesellschaft. Thieme aus dem Off: „Ich ekle mich vor vielem hier. Ich glaube, dass diese Spießigkeit hier fast ohne Beispiel ist. Es gibt wahrscheinlich nichts Spießigeres als Weimar. Die Kulturszene ist nicht kompetent. Der einstige Kulturstadtchef von 1999, Bernd Kauffmann, war wenigstens eingeschränkt kompetent. Der hat eine Aura gehabt: ein Jacques Lang für Arme.“ Da spricht einer, der zu Hause ist. Im Guten wie im Bösen, bei seinem Faust und mit den jungen Baal-Gesellen Ben Becker und Blixa Bargeld als Leibgarde gegen das Altern.

Thieme hat sich das für Weimar so ausgedacht. Die ersten fünf Vorstellungen sind ausverkauft, das Ensemble murrt, und Thieme tut, als verstehe er die Theaterwelt nicht mehr: „Wenn man uns hier als Künstler nähme und nicht als durchgeknallte Menschen, dann könnten wir extrem wichtige Impulse geben. Statt dessen kommen die an diesem Haus an und behaupten: Da kommen jetzt diese Hand voll Durchgeknallter vorbei, machen das Theater verrückt, bringen die Leute durcheinander, halten sich an keine Hausordnung, saufen nur und hinterlassen verbrannte Erde. Das ist überhaupt nicht der Fall.“ Anders als Lear weiß Thomas Thieme trotz Melancholie sehr wohl auch das Spiel der Generationen zu spielen. In der Theaterkantine sitzt er; links und rechts sitzen seine Baal-Jungen, Ben Becker, Blixa Bargeld und Fußballgott Jimmy Hartwig und leben für ihn das Leben, das er meint. Und ganz Weimar schaudert es wohlig, denn der Becker-Baal am heutigen Abend ist – ganz anders als Lear – ein genealogischer Wiedergänger.

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