Herz erwärmend

Das Hagen Quartett vertreibt durch vollendetes Spiel die winterliche Kälte – bis zum Aufbruch

Aufbruch und Vollendung übertitelte, einer dusseligen Unsitte folgend, die Philhamonische Gesellschaft das Konzert des Hagen-Quartetts am Samstagabend in der Glocke. Diesmal stimmte es, jedenfalls dann, wenn man die Reihenfolge ändert. Vollendung und Aufbruch: Das trifft sowohl auf das Programm als auch auf die Interpreten zu.

Von Bachs höchst vollendeter „Kunst der Fuge“ über Witold Lutoslawskis sich aus der Enge des sozialistischen Realismus befreienden Streichquartett bis zu Beethovens op. 18 Nr. 1, mit der er den Vätern des Streichquartetts zeigen wollte, was Aufbruch bedeutet, spannte sich der Bogen. Und das Hagen-Quartett hat mittlerweile die Grenzen früher spieltechnischer Vollkommenheit überschritten. Es kann Musik der Befreiung und des Aufbruchs adäquat gestalten, ohne dabei die Spielkultur zu vergessen.

Vier Stücke – für Streichquartett gesetzt – aus der Kunst der Fuge ließen das Publikum musikalischer Vollendung teilhaftig werden. Handwerklich perfekt gearbeitet, trotzdem schön, bewegend und erhaben: wie das Werk, so bot es das Hagen-Quartett dar. Nahezu ohne Vibrato gespielt, schwebte die Musik fast körperlos in der warmen Luft des Kammermusiksaals.

So viel Himmlisches machte Hunger auf Erdnahes. Den befriedigte das vor fast 40 Jahren entstandene Streichquartett Lutoslawskis. Es ist ein konfliktträchtiges und aufwühlendes zweisätziges Werk. Neben exakt notierten Passagen lässt es den einzelnen Instrumentalisten Freiräume zur eigenständigen Entfaltung. So klingt es in Detail immer wieder neu und anders. Hörbar wird bei entsprechender Konzentration eine Suche nach Kommunikation – ihr Misslingen ebenso, wie ein erschöpftes Zueinander-Finden.

Beides gestaltete das Hagen-Quartett eindringlich und mit großer Konzentration, mit Lust am krassen Missklang ebenso wie mit Gespür für die zart melancholischen Schönheiten der Partitur. Das durch Lutoslawski stark geforderte Publikum konnte sich nach der Pause völlig fallen lassen. Das Hagen-Quartett nahm es beherzt unter die Arme und schickte es auf eine rasante, perspektivenreiche Reise durch Beethovens 1. Streichquartett, in dem sich keineswegs vier gepflegte Herren geistreich unterhalten, wie man gerne Streichquartette charakterisiert. Hier gehen weit eher vier Freunde auf Tour durchs Leben.

Dessen Herausforderungen von Spiel, Spaß, Spannung bis zu Tod und Verlust werden kollektiv verarbeitet. Dem – intensiv vermittelt – zu folgen, war aufregend, und rührend zugleich. Mit großer dynamischer Bandbreite gespielt, oftmals angetrieben von Cello und Bratsche, entstand ein lebendiges Bild des beherzten Aufbruchs aus dem Zeitalter der Unmündigkeit. Großer Beifall des Publikums entlockte den Künstlern noch eine bemerkenswerte Zugabe: Hugo Wolfs Italienische Serenade zauberte eine laue Nacht mit rasantem Getümmel ins Ohr der Zuhörer – ohne ihnen den Aufbruch in die lausige Kälte zu ersparen.

Mario Nitsche