Die Selbstblockade des Staates

Der deutsche Föderalismus ist aus den Fugen geraten. Werden die Zuständigkeiten von Bund und Ländern nicht neu geregelt, bleibt die Republik auf Dauer reformunfähig

Wer bestellt, muss bezahlen. Gemeinschafts-aufgaben gehörenabgeschafft

Übermorgen werden sie wieder einen großen Auftritt haben: der Trickser Wowereit, der Schweiger Schönbohm und der Schauspieler Koch. Am Mittwoch nämlich entscheidet das Bundesverfassungsgericht über die rechtmäßige Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes durch den Bundesrat und das umstrittene Stimmverhalten Brandenburgs. Vieles spricht dafür, dass dann diejenigen jubeln werden, die im Frühjahr die Betretenen waren.

Die nächstliegende Frage aber stellt niemand. Warum reden die Bundesländer beim Einwanderungsgesetz eigentlich mit? Ohne Zweifel sind das Einwanderungsrecht wie das der Staatsbürgerschaft oder des Asyls hoheitliche, gesamtstaatliche Angelegenheiten. Trotzdem ist im Bundestag hier eine Mehrheit keine Mehrheit mehr. Dasselbe gilt bei Themen wie Rente, Homoehe oder Gesundheitssystem. Umgekehrt ist es allerdings genauso wenig einzusehen, warum der Bund den Ländern etwa bei der Wirtschaftsförderung oder der Hochschulplanung reinredet. Hier wissen die Länder viel besser, was vor Ort gebraucht wird. Genau hier liegt das Problem. Klare Zuständigkeiten gibt es im bundesdeutschen Föderalismus nicht, jeder fuscht jedem ins Handwerk. Entscheidungsprozesse werden immer undurchschaubarer, deren parteipolischer Missbrauch immer häufiger.

Auch beim Thema Zuwanderung stritten Bund und Länder, Regierung und Opposition schon lange nicht mehr um Inhalte. Hier waren sie sich längst sehr nahe gekommen. Doch weil wieder einmal Wahlkampf war, wurde eine Reform, die von einer der Mehrheit der Bevölkerung gewollt und vor allem von allen Experten dringend gefordert wurde, für politische Machtspiele geopfert. Klarer ist selten demonstriert worden, dass die föderale Ordnung in Deutschland völlig aus den Fugen geraten ist.

So hatten es sich die Väter und Mütter des Grundgesetzes nicht gedacht, als sie der Bundesrepublik 1949 einen föderalen Staatsaufbau verordneten. Die vertikale Gewaltenteilung sollte die ökonomisch, kulturell und religiös so unterschiedlichen Regionen des Landes in den Bundesstaat integrieren, gleichzeitig sollte sie dabei die Macht des Bundes begrenzen, aber nicht brechen.

Davon ist längst keine Rede mehr. Waren in den Fünfzigerjahren noch zehn Prozent aller Bundesgesetze im Bundesrat zustimmungspflichtig, sind es heute rund zwei Drittel, darunter vor allem die wichtigen. Sukzessiv hat der Bund mit den so genannten Gemeinschaftsaufgaben etwa bei der Forschungsförderung oder der Strukturpolitik mehr Zuständigkeiten an sich genommen. Dafür hat er den Ländern ein Mitentscheidungsrecht bei allen Gemeinschaftssteuern (und das sind fast alle) eingeräumt. Weil aber kaum ein Bundesgesetz ohne finanzielle Auswirkungen bleibt, sitzen die Landesregierungen immer mit am bundespolitischen Tisch, selbst wenn sie das Thema, wie bei der Zuwanderung, eigentlich gar nichts angeht. Während Landesparlamente dadurch zu Befehlsempfängern degradiert sind, die weitgehend ohne eigene Gesetzgebungskompetenz sind, kompensieren die Landesregierungen ihren föderalen Bedeutungsverlust damit, dass sie immer hemmungsloser in bundesstaatliche Angelegenheiten hineinreden.

Mit fatalen Folgen. Aus dem föderalen Korrektiv ist so mittlerweile ein parteipolitisches Forum geworden, aus dem Integrationsmotor ein Blockadeinstrument. Längst geriert sich der Bundesrat mehr und mehr als zweite Parlamentskammer. Weil jede Landtagswahl Auswirkungen auf die Mehrheitsverhältnisse in der Länderkammer hat, ist permanent Bundestagswahlkampf. Nichts geht mehr, die Konsensmaschine ist kollabiert. Das System des kooperatistischen Föderalismus ist entscheidungsunfähig geworden, es schiebt notwendige politische und gesellschaftliche Reformen vor sich her und provoziert Lähmung und Verantwortungslosigkeit.

Der zunehmende parteipolitische Missbrauch des Bundesrates widerspricht dabei nicht nur dem Geist des Föderalismus. Der Bundesrat ist in seiner jetzigen Form als Oppositionskammer verfassungsrechtlich kaum noch legitimiert. Eine zweite Parlamentskammer, wie etwa der Senat in den USA, ist im Grundgesetz gerade nicht vorgesehen. Der Föderalismus steckt nicht nur in einer politischen Falle, sondern auch in einer Verfassungskrise.

Doch darüber wird kaum gesprochen werden, wenn die Karlsruher Richter ihr Urteil zur Bundesratsabstimmung über das Einwanderungsgesetz verkündet haben. Stattdessen werden einmal mehr die Klagen über die Reformunfähigkeit Deutschlands zu hören sein und mit ihnen der Ruf nach einer großen Koalition. Dabei würde eine solche den gescheiterten föderalen Kooperatismus nur auf die Spitze treiben. In Wirklichkeit brauchte sich ein parteiübergreifender Konsens lediglich für eine einzige Reform zu finden, und zwar für die Reform des Föderalismus. Diese wäre der Schlüssel zur Auflösung des Reformstaus. Klare föderale Strukturen würden Blockaden lösen und Entscheidungsprozesse beschleunigen.

Nun ist es nicht so, dass die Diskussion über eine Reform des Föderalismus neu wäre. Seit den 70er-Jahren klagen Experten über die lähmende Politikverflechtung. Zahllose Kommissionen haben getagt, den Reformbedarf aufgezeigt und mögliche Lösungen niedergeschrieben. Getan hat sich nichts, denn selbst die Föderalismusdiskussion steckt in der parteipolitischen Blockade fest. Vor allem die CDU-regierten Länder fordern mehr föderalen Wettbewerb, die rot-grüne Bundesregierung tendiert hingegen zu mehr gesamtstaatlichen Regelungen. (Würde die CDU in Berlin regieren, wäre es vermutlich genau andersherum.) Dabei liegen die Alternativen gar nicht so weit auseinander, denn wichtig sind vor allem klare Zuständigkeiten.

Der Schlüssel zu einer Föderalismusreform ist eine neue Finanzverfassung. Warum soll der Bundesrat nicht über die Steuern entscheiden, die dann allein den Ländern zugute kommen. Dafür reden sie dann dem Bund bei seinen Steuern und hoheitlichen Aufgaben nicht länger herein. Die Länder bekämen wieder mehr Entscheidungsbefugnisse und müssten dafür allerdings bundespolitische Macht abgeben.

Aus dem föderalen Korrektiv ist mittlerweile ein parteipolitisches Forum geworden

Hinzu müsste das Konnexitätsprinzip wieder stärker zur Geltung kommen: Wer staatliche Leistungen beschließt, bezahlt sie auch. Gemeinschaftsaufgaben würden abgeschafft. Dann gäbe es wieder klare Zuständigkeiten und zuordenbare politische Verantwortung.

Natürlich funktioniert föderaler Wettbewerb nur mit gemeinsamen Zielen und finanzieller Solidarität der reichen gegenüber den armen Ländern. Aber dafür reicht es, etwa Bildungsziele, Grenzen der Steuerbelastung oder Leitlinien für die Sozialpolitik festzulegen. Hinzu käme ein regelmäßiges Benchmarking, damit sich tatsächlich die besten Ideen in allen Ländern durchsetzen – und über diese Ideen hätten die Wähler dann abzustimmen. Somit wäre eine Landtagswahl wieder eine Landtagswahl und eine Bundestagsmehrheit eine Bundestagsmehrheit.

CHRISTOPH SEILS