Ein Hilfsappell mit Kalkül

… auch um den Preis, die zu benachteiligen, deren Lage konstant dramatisch ist

von DOMINIC JOHNSON

Ausgetrocknete Wasserlöcher in Äthiopien. Schulen in Sambia, in denen die Kinder wegen Unterernährung und Erschöpfung fehlen. Von Krankheit niedergestreckte Flüchtlinge ohne Versorgung, tief in den Wäldern des Kongo. Eine nahende humanitäre Katastrophe in den Kriegsgebieten der Elfenbeinküste. Verdurstende Viehherden in Mauretanien. An allen Ecken und Enden Afrikas, so konstatieren Hilfswerke der UNO, bahnt sich derzeit eine in ihrer Gesamtheit „beispiellose“ Hungerkrise an.

„Africa Hunger Alert“ nennt das bei der Hungerhilfe federführende UN-Welternährungsprogramm WFP daher seinen neuesten koordinierten Hilfsappell, der gestern in Rom offiziell präsentiert wurde. Es geht um „eine globale Antwort auf Versuche an der Basis, über 38 Millionen Opfern der immensen Hungerkrise zu helfen, die den afrikanischen Kontinent im Griff hat“, so das World Food Programme. Rechtzeitig vor den befürchteten Hungersnöten Anfang kommenden Jahres – und rechtzeitig vor Weihnachten – will die UNO die Weltöffentlichkeit derart sensibilisieren, dass noch vor einem Massensterben Hilfe geleistet werden kann.

Um die Dramatik der Lage zu verdeutlichen, führt die Aktion des WFP-Hauptquartiers in Rom die bisher getrennt von den WFP-Regionalbüros behandelten Hungerkrisen in den verschiedenen Teilen Afrikas zusammen und erstellt damit ein apokalyptisches Gesamtbild. So sind nach WFP-Angaben im südlichen Afrika 14,4 Millionen Menschen akut von Hunger bedroht, die meisten davon in Simbabwe. Am Horn von Afrika liegt die Zahl mit 17,9 Millionen noch höher – wobei es dort fast ausschließlich um Äthiopien geht. Hinzu kommen die Dürre in Mauretanien, die Dauerkrisen im Afrika der Großen Seen rund um die Demokratische Republik Kongo sowie die neue Krise noch nicht absehbaren Ausmaßes rund um den Bürgerkrieg in der Elfenbeinküste. Insgesamt werden 19 afrikanische Länder aufgelistet.

Die kriegsbedingten Krisengebiete berücksichtigt das WFP nur zum Teil, was paradoxe Folgen hat: Viele der bislang am stärksten von Hunger betroffenen Länder Afrikas sind gar nicht oder unzureichend im „Africa Hunger Alert“ vertreten (siehe Tabelle). Die Spitzenreiter Somalia und Burundi kommen überhaupt nicht vor, und für die Demokratische Republik Kongo werden lediglich 1,4 Millionen Hilfsbedürftige angegeben – obwohl annähernd drei Viertel der 50 Millionen Einwohner des Landes hungern und zwei Drittel Soforthilfe brauchen.

Insgesamt hungern in Afrika 200 Millionen Menschen – mehr als ein Viertel der Bevölkerung. „Wir haben nicht alle Bedürfnisse aufgelistet“, erklärt dazu Brenda Barton vom WFP-Büro in Nairobi. „Es wurde beschlossen, die neuesten Notfälle zu behandeln. Dies sind die großen Notsituationen, wegen denen wir in höchster Alarmstimmung sind.“

Dem WFP geht es vor allem darum, auf Länder aufmerksam zu machen, in denen sich die Situation rapide verschlechtert – auch um den Preis, eventuell andere zu vernachlässigen, in denen die Lage konstant dramatisch ist. Aber auch wenn der Alarm selektiv ist – geboten ist er sicherlich. Der laufende WFP-Hilfsappell für das südliche Afrika über 507 Millionen Dollar ist bislang nur zu 59 Prozent gedeckt. Um eine massive Hungersnot ab Januar zu vermeiden, müssten jetzt massiv Lebensmittel in die Region eingeführt werden. In Simbabwe, das von allen Ländern des WFP-Appells den höchsten Prozentsatz an akut Hilfsbedürftigen an der Gesamtbevölkerung aufweist, ist nach neuesten US-Untersuchungen der Schwarzmarktpreis für Mais fünfzehnmal höher als der staatliche.

Hier verlässt sich die Regierung vor allem auf die Hilfswerke, wie WFP-Sprecher Richard Lee in Johannesburg bestätigt: „Es gibt unsere Hilfsgüter, die umsonst ausgeteilt werden. Und es gibt die der Regierung, die gekauft werden müssen“, sagt er. „Wir hatten nur einmal, in Matabeleland, Zwischenfälle bei der Verteilung, als Regierungsleute unserer Güter beschlagnahmen wollten. Da haben wir abgebrochen. Doch jetzt läuft die Hilfsaktion dort wieder.“ Simbabwische Oppositionelle verweisen hingegen darauf, dass Simbabwes Regierung nach wie vor private Lebensmittelimporte verbietet und die Verteilung durch unabhängige Stellen behindert.

Es geht um Hilfe für Länder, in denen der Hunger zurzeit rapide zunimmt …

Es ist ein generelles Problem des „Africa Hunger Alert“, dass das WFP den Hunger systematisch – und absichtlich – auf vor allem natürliche Ursachen zurückführt, um die Beziehungen zu Spenderländern nicht zu gefährden. Nur in Kongo-Brazzaville, Uganda sowie dem westafrikanischen Krisenherd rund um Liberia und die Elfenbeinküste nennt das WFP Krieg als Grund für die Verschlechterung der Lage. Aber Fehler der Politik werden kaum irgendwo benannt. Das hält Michael Drinkwater, Koordinator des Hilfswerks Care für das südliche Afrika, für falsch. „Die aktuelle Dürreperiode ist nicht so gravierend wie in anderen Jahren“, sagt er. In Simbabwe und auch in Sambia sei die Krise „von Menschenhand“ gemacht.

Ähnliche Kritik gibt es im Falle Äthiopien, dem Land mit den höchsten absoluten Zahlen im WFP-Appell. Die Regierung, so sagen unabhängige Beobachter, tue trotz immer wiederkehrender Hungerkrisen nichts, um den Bauern Eigentumsrechte am staatlich kontrollierten Boden zu geben. „Warum soll ich etwas pflanzen, wenn es nicht mein Land ist und ich von einem Tag auf den anderen weggeschickt werden kann?“, ist die Meinung äthiopischer Bauern. Auch die Deutsche Welthungerhilfe warnt: „Auslöser der gegenwärtigen Krise sind die ausgebliebenen Regenfälle. Ihre Ursache liegt aber tiefer, etwa in den zu geringen Investitionen der äthiopischen Regierungen in die ländliche Entwicklung.“ Und eine neue Studie des britischen Entwicklungshilfeministeriums kommt zu dem Schluss, dass wiederholte gigantische Hilfsaktionen in Äthiopien Abhängigkeit und Armut fördern. Damit werde in Zukunft die Zahl der Hilfsbedürftigen dramatisch ansteigen.

Afrikas Politiker wissen, dass der Kontinent seine Hungerkrisen nur überwinden kann, wenn sie die eigene Landwirtschaft zur Priorität erklären. „Früher exportierte Afrika Lebensmittel, heute bekommt es mehr Lebensmittelhilfe als alle anderen Kontinente“, kritisierte Jacques Diouf, Chef der UN-Agrarorganisation FAO, auf einem Staatengipfel in Nigeria letzte Woche. Der gastgebende nigerianische Präsident wies darauf hin, dass schlechte Lagerhaltung jährlich ein Fünftel der afrikanischen Getreideernten und die Hälfte der Obst- und Gemüseernten vernichteten. Wäre dies anders, könnte die UNO ihren „Africa Hunger Alert“ vergessen.

Mitarbeit: Martina Schwikowski, Ilona Eveleens