Die Dinge sind nicht so, wie die Lehrer sagen

Argentiniens Schüler und Lehrer sind in einer unerträglichen Situation. Während draußen ihr Land in Stücke bricht, sollen sie für die Zukunft lernen

Die Fragen ihrer elfjährigen Schüler entwaffnete die Lehrerin einer der Privatschulen in Buenos Aires. „Señorita, warum bringen Sie uns das bei?“ Ein Kind sagte: „Ich sehe nicht, dass es sich lohnt, das zu lernen, weil es uns sowieso nichts nützen wird?“ – „Ich sehe, Señorita“, fuhren die Kinder vor der verblüfften Lehrerin fort, „dass die Dinge nicht so sind, wie Sie sagen.“

Der Autor Martín Caparrós erzählt die Szene in der argentinischen Zeitung Página 12. Sein Sohn war in dieser Klasse. Gemeinsam mit den anderen Kleinen machten sie dann nichts anderes als zu entlarven, was sich hinter dem Blick all derer, die sehen möchten, verbirgt: Die schwere Krise Argentiniens hat sich vertieft bis hin zu dem Punkt, dass die Kinder das Vertrauen in die Schule verloren haben, in ihre Lehrer, mehr noch: in ihre Zukunft.

Die Krise eines Argentiniens, das mit nur 36 Millionen Einwohnern in einem gigantischen Territorium (3.700.000 Quadratkilometern) nicht nur in weniger als fünf Jahren 20 Millionen Arme fabriziert hat, sondern auch die Bedürftigkeit von weiteren 8 Millionen lanciert. Inzwischen gibt es eine neue Kategorie der Armut – El indigente. Ein Wesen, das sich nicht eimal seine Lebensmittel kaufen kann und das sich, um zu überleben, gezwungen sieht, die Abfalleimer zu durchwühlen.

Die Kinder wissen, dass der Hunger in Argentinien tötet – im Wortsinne. 35 Kinder sind im Norden des Landes gestorben, in weniger als einem Monat. Die Kinder wissen es. Sie sehen es. Sie leben es. Aber sie sollen natürlich weiter in die Schule gehen – und lernen.

Europas Schulen haben andere Sorgen. Seit der großen Pisa-Untersuchung zerbricht man sich den Kopf, welcher Art von Unterricht der bessere ist: den Kindern zuzuhören und sie zu fördern. Oder ihnen ein Lernprogramm abzufordern. In Argentinien ist diese Spannung ins Unerträgliche gesteigert.

Es ist nicht sehr schwer, sich die Anstrengungen der Lehrer vorzustellen, die ihren Schülern auf ehrliche Fragen optimistische und hoffnungsvolle Antworten zu geben. Obwohl auch sie sich bewusst sind, dass das, was durch die Fenster außerhalb ihrer Klassen zu sehen ist, ihrem Versuch Hohn spricht, die Schüler zum Lernen anzuhalten. Das Land bricht draußen in Stücke – drinnen sollen Schulkinder Vokabeln lernen.

Die Lehrer wissen, dass es im Grund keinen Ausweg gibt. Denn das Vertrauen zwischen Lehrern und Schülern ist unentbehrlich, um unterrichten und lernen zu können. Wenn sich dieses Vertrauen verliert, dann zerbricht der Pakt der Bildung, jener ungeschriebene Vertrag zwischen den Lehrern und den Schülern, der die fundamentale Basis eines jeden Bildungssystems ist.

Ich erinnere mich, auf die Tafel meiner alten Schule blickend, als wenn die Lehrerin dort die „offenbarte Wahrheit“ aufschriebe. Ich erinnere, wie ich und meine Mitschüler Fragen stellten – aber niemals etwa nicht an das glaubten, was die Lehrer in ihren Klassen unterrichteten. Wir glaubten, dass sie das Beste für uns wollten. Und dass die Zukunft in unserer Reichweite sein würde. Einzig durch die Bücher und das Wissen.

In nur drei Dekaden haben sich Argentinens Kinder in große Skeptiker verwandelt. In Kritiker und Beobacher einer hoffnungslosen Realität.

Je größer die Realität an der Tafel abweicht von dem, was die Schüler draußen vor den Fenstern erleben, desto notwendiger wird es, die Zweifel, Ungewissheiten, die Intuitionen der Schüler aufzunehmen. Argentiniens Lehrern bleibt keine Wahl, als so mit ihren Schülern zu lernen. Vielleicht ist das eine Lehre in der Welt nach Pisa. Wenn auch eine bittere. MARTA PLATÍA

Die Autorin, 38, arbeitet für die argentinische Zeitung Clarín. Sie lebt zurzeit in Berlin