Selbstbestimmung im Alter

Der Sozialpsychiatrische Dienst nimmt Stellung zum tragischen Tod der Bremer Rentnerin Doris O. und beschreibt die Problematik, einem Menschen staatliche Hilfen überzustülpen. „Es ist ein Balanceakt“

„Ab welchem Moment muss ein Mensch vor sich selbst geschützt werden?“

Der tragische Tod einer 89-Jährigen Anfang Dezember in Schwachhausen hat viele Menschen wütend gemacht. Es habe an Hilfsmaßnahmen gefehlt, sagen sie. Dabei ging es weniger um die Todesursache, als vielmehr um die Umstände, in denen die ältere Dame während der letzten Monate gelebt hatte. Eine Nachbarin empfand die Wohnung der Alleinstehenden als „verwahrlost“, die Frau selbst sei „schlecht versorgt gewesen“, woraufhin sie die Behörden im Sommer um Unterstützung gebeten habe. Gestorben war Doris O. nach einem Brand in ihrer Küche – sie hatte vergessen, die Herdplatte auszuschalten.

Nach dem tödlichen Unfall schob die Öffentlichkeit einen Großteil der Schuld auf den „Sozialpsychiatrischen Dienst“ (SPsD). Der SPsD kümmert sich jährlich um rund 5.000 psychisch erkrankte Menschen, die nicht den Weg in die normalen Versorgungssysteme finden. Dazu gehören neben Suchtkranken und Psychosekranken auch demente, ältere Personen.

Der erste Kontakt zu Doris O. kam bereits im März 2002 zustande. Die Hausverwaltung hatte die Behörden benachrichtigt, in der Annahme, die alte Dame benötige Hilfe. Ein mitGutachter des SPsD entschied daraufhin, dass die Wohnung zwar „verschmutzt“, aber „nicht verwahrlost“ sei. Auf eigenen Wunsch dürfe die Frau dort weiter alleine leben. Anzeichen von Altersdemenz seien „nicht erkennbar“.

Der „Sozialdienst für Erwachsene“, mit dem sich der SPsD besprach, kam zu ähnlichen Ergebnissen. Der Fall wurde jedoch weiter verfolgt, und auf richterlichen Beschluss wurde der alten Frau Mitte des Jahres eine Rechtsbetreuerin zumitr Seite gestellt. Eine Pflegebetreuerin wollte sie nach wie vor nicht akzeptieren. Als Grund, weshalb die 89-Jährige nicht in einem Pflegeheim untergebracht wurde, geben die Behörden also an: Sie hat sich gegen Hilfe von außen gewehrt.

Genau hier liegt das Problem: „Wir befinden uns jedes Mal auf einer Gratwanderung, wenn wir in die Freiheitsrechte eines Menschen eingreifen und ihn gegen seinen Willen zwangseinweisen müssen“, argumentiert Jochen Zenker, Leiter des Gesundheitsamtes Bremen. „Ab welchem Moment muss ein Mensch vor sich selbst geschützt werden?“, fragt er und verweist auf Artikel 1 des Grundgesetztes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.

Das Tragische ist, dass gerade in den letzten Monaten zwischen der 89-Jährigen und den Mitarbeitern des Sozialdienstes ein Vertrauensverhältnis gewachsen sein soll. Die alte Dame hatte sich wohl langsam mit dem Gedanken angefreundet, eine Pflegebetreuerin und ärztliche Hilfe zuzulassen. „Wir waren gerade auf dem Weg, die Frau zu überzeugen, sich helfen zu lassen“, bedauert Albrecht Mauer vom SPsD. „Durch den Unfall in ihrer Küche kam es dazu nicht mehr“.

Jörg Fischer