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Die Fälschung der Welt

„William Buelow Gould, verurteilter Mörder, Maler und allerlei anderes …“: Richard Flanagan erzählt in dem Roman „Goulds Buch der Fische“ von der berüchtigten Strafkolonie Van Diemen’s Land

von KOLJA MENSING

Dieses Buch ist schön und geheimnisvoll. Der dunkelgrüne Einband ist mit glitzernden Punkten durchsetzt, das schwere, gestrichene Papier schimmert sanft, und die Buchstaben, Wörter und Sätze der verschiedenfarbig gedruckten Kapitel sind in einer altertümlichen Type gesetzt, deren bauchige Bögen, solide Füße und anmutig gerundete Serifen von jenem Versprechen erzählen, das sich aus einer mythischen Vorzeit des Lesens bis in unsere Tage hinübergerettet hat. Es ist das Versprechen, dass sich unter den aufwändig gestalteten Oberflächen eines Buches eine Zauberkraft verbirgt, die uns „packt“, „fesselt“ und „nicht wieder loslässt“.

An diese magischen Momente im Leben eines Lesers appelliert Richard Flanagan gleich am Anfang seines Romans „Goulds Buch der Fische“. Ein junger Mann, der sein Geld damit verdient, vermeintlich antike Möbel an Touristen zu verkaufen, entdeckt in einem Haufen Gerümpel ein Buch: „Der Einband war wie die Haut eines Trompetenfisches, den man bei Nacht gefangen hat, eine einzige Masse von pulsierenden purpurroten Flecken […]. Und so, wie sich das gesprenkelte Leuchten auf den nächtlichen Fischer überträgt, der den Trompetenfisch in die Hand nimmt, so begannen nun auch meine Hände zu phosphoreszieren, ein unregelmäßiges Muster von purpurroten Sommersprossen erschien, funkelnd, wie die Lichter einer exotischen, unbekannten Stadt.“

Der Schriftsteller Richard Flanagan, der 1961 auf der australischen Insel Tasmanien geboren wurde, weiß um das Glück des Lesens – und er weiß auch um die Qualen, die es bereiten kann. Vierhundert Seiten nach dem geheimnisvollen Fund lässt er einen gewissen William Buelow Gould im Jahre 1831 auf seiner Flucht aus einer Strafkolonie ebenfalls auf ein Buch stoßen. Gould bekommt es mit der Angst: „Lesen war mir zur Quelle aller Übel geworden, hatte mir nichts als Enttäuschung und Desillusion beschert, in einem Maße, das mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt […] und mich veranlasst hatte, alle meine Annahmen über die Welt für schief und falsch zu halten.“ Und dennoch: Inmitten der Einöde, halb verhungert und von seinen Verfolgern fast zu Tode gehetzt, beginnt William Buelow Gould – zu lesen.

Er liest in dem Buch seine eigene Geschichte, die er selbst Monate zuvor in seiner Zelle im Kerker der Strafkolonie zu schreiben begonnen hatte: „Ich bin William Buelow Gould, verurteilter Mörder, Maler und allerlei anderes, was nicht so wichtig ist […], ein Toter bei lebendigem Leib, ein Fälscher, dem man in den düsteren Nischen des Gerichts von Bristol am schwülen Nachmittag des 10. Juli 1825 den Prozess machte.“ Gould wird in die britische Strafkolonie Van Diemen’s Land deportiert, dem heutigen Tasmanien. Auf eine einfache Formel gebracht, erzählt Richard Flanagans Roman das Vorher und Nachher dieser Verurteilung: Wie aus dem irischen Waisenkind, Leser und Stricher Billy Bellow zunächst der Möchtegern-Maler Billy Buelow wird, der sich nach mehreren Zwischenstationen als Gauner, Geldfälscher und frühkapitalistischer Unternehmer in der schlimmsten aller schlimmen Strafkolonien wiederfindet, wo er Freunde findet, sich verliebt und schließlich sein wahres Talent entdeckt: Er beginnt Fische zu malen, genauer gesagt „Meereskreaturen aller Art – Haifische, Krabben, Kraken, Tintenfische und Pinguine“.

Es ist eine Rückschau. In seiner Zelle taucht Gould die Feder, die er aus einem Haifischknochen geschnitzt hat, in das Sepia der Tintenfische und die purpurne Flüssigkeit, die er aus den Stacheln eines Seeigels gewonnen hat, in sein Blut und die eigenen Fäkalien. Nur die Flut unterbricht ihn, wenn sie das Verlies überschwemmt und ihm kaum Luft zum Atmen lässt. Der Tod ist nahe: „Ein Geschichtenerzähler, heißt es, ist einer, der den Docht seines Lebens von der Flamme seiner Geschichte aufzehren lässt.“

Gould versucht diesem schleichenden Tod des Schriftstellers mit allerlei Tricks zu entkommen, denn „wie der gute alte Trim Shandy bin ich entschlossen, mich nicht nach den Regeln irgendeines anderen zu richten“. Und wie Laurence Sternes Romanfigur erzählt Gould seine Geschichte auf verschlungenen Pfaden, in unzähligen Abschweifungen und Exkursen und einer Chronologie, die das Ende der Geschichte vor ihren Anfang legt. Über das Ergebnis macht Gould sich keine Illusionen: „Ich wollte nur eine Geschichte von der Liebe erzählen, und die handelte von Fischen und von mir und von allem.“

„Von allem“, das ist durchaus wörtlich zu nehmen. Richard Flanagan unternimmt geradezu enzyklopädische Anstrengungen. Der Verweis auf „Tristram Shandy“ ist nicht die einzige gelehrte Anspielung in diesem Roman, der aus allerlei Versatzstücken den Zeitgeist des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts rekonstruiert – der Epoche der „Dampfmaschine und Byrons ‚Don Juan‘ und der wissenschaftlich ausgetüftelten Kamine von Baron Rumford“, einem Zeitalter, in dem man an die Verheißungen des technischen und naturwissenschaftlichen Fortschritts genauso glaubte wie an das Genie des Künstlers, und in der man alle die, die sich an diesen zivilisatorischen Projekten nicht beteiligen wollten, den Irrenanstalten und Gefängnissen übergab – oder den Strafkolonien am anderen Ende der Welt.

Dort wird der Fortschritt an sich selbst verrückt. Der wahnsinnige Kommandant lässt in Van Diemen’s Land Eingeborene gleich massenweise abschlachten. Unter den Gefangenen verbreiten sich derweil die Pocken, Syphilis und – angesichts der schlechten Versorgungssituation – ein gewisser Hang zum Kannibalismus. Wer überlebt, wird mit der Peitsche und anderen grausamen Methoden zur Sklavenarbeit getrieben, denn der Kommandant will ein zweites Europa errichten, mit gewaltigen Bauwerken, Manufakturen und sogar einem Bahnhof. Er hat viel von der Eisenbahn gehört und hofft, das „Dampfross“ auf diese Art wie ein Tier mit einem Köder bis nach Australien zu locken.

„GROSS IM KOMMEN IST JETZT“, schreit und stammelt sein ehrgeiziger Gefängnisarzt, „NEUE WISSENSCHAFT – NEUE GESELLSCHAFT – NEUES ZEITALTER“. Der Arzt möchte seinen Teil zum naturwissenschaftlichen Aufbruch beitragen (der zumindest seinen rhetorischen Begleiterscheinungen nach durchaus den „technologischen Revolutionen“ und „sozialen Umwälzungen“ unserer Zeit vergleichbar ist). Also stellt er Gould ab, um für ein umfassendes Werk über die Fische die Illustrationen zu erstellen – denn der selbst ernannte Naturforscher glaubt wie viele seiner Zeitgenossen, „man könnte alles wissen und folglich alle Probleme lösen, alles Unvollkommene verbessern, alle Fragen von Gut und Böse wären eindeutig zu beantworten und zu bereinigen, wenn die Dinge der Schöpfung erst einmal ordentlich in die Fächer eines universalen Linnéschen Systems einsortiert wären“.

Diese Vorstellung, dass man die Natur genauso wie den Menschen und seine Werke, die ganze Welt also, in ein einziges großes, gut organisiertes Archiv verwandeln kann, zieht sich wie ein roter Faden durch „Goulds Buch der Fische“. Auch der Roman selbst tritt als ungeheurer Wissensspeicher auf: Linnés Klassifikationen und Lamarcks Ordnungen haben darin ihren Platz gefunden genauso wie die Werke Thomas de Quinceys, John Keats’ und Goethes. Die Handlung ist sorgfältig auf die historischen Eckdaten der Besiedlung von Van Diemen’s Land abgestimmt, und einen Maler William Buelow Gould, geboren 1803, gestorben 1853, bekannt durch seine Stillleben, hat es wirklich gegeben – seine wunderschönen Fischbilder illustrieren „Goulds Buch der Fische“.

Doch Richard Flanagan hält sich nicht an die Regeln des Archivs: Er hat das Namensregister in Unordnung gebracht, indem er zum Beispiel dem Gefängnisarzt den Nachnamen des berühmten Altphilologen des 18. Jahrhunderts, John Lempriere, gegeben hat. Er hat nach Gutdünken Einträge ergänzt und verändert, manches verschwiegen und vieles erfunden, und auch einige hübsche Anachronismen eingearbeitet: Ein Porträt Goulds zeigt den Kommandanten, wie er Mao gleich vor jubelnden Massen durch einen Fluss schwimmt, dann wiederum findet man in der Figur Goulds Züge von Louis Dega aus dem berühmten Gefangenenepos „Papillon“.

Das ist die Freiheit des Romanschriftstellers: So wird aus der Welt, wie sie wirklich war, Literatur. Doch war die Welt wirklich so, wie wir sie uns vorstellen? – In der Strafkolonie existiert ein gewaltiges Archiv, in der die Geschichten der Sträflinge und der Anlage detailliert dokumentiert werden, bzw. von einem phantasiebegabten Archivar neu erfunden werden. Entgegen der brutalen Wirklichkeit der Kolonie soll der Nachwelt auf diese Art und Weise „ein glaubhaftes Bild von dieser Strafanstalt vermittelt“ werden, in der sie zu einer Institution wird, „deren kluge Leitung die bestialischen Triebe der Sträflinge zu bändigen wusste und in vorbildlicher Weise […] Taschendiebe zu Schustern und Sodomiten zu Christen machte“.

Der Fortschritt ist nur eine Fiktion, die Vergangenheit nur Phantasie: „Goulds Buch der Fische“ erzählt von der Fälschung der Welt – einem unheimlichen Prozess, dem William Buelow Gould entkommen will. Zwar betont er zu Beginn, dass er nicht so tun wolle, „als wären meine Fische so etwas wie eine Alternativ- oder Gegenregistratur“. Doch sein persönliches Archiv – seine Aufzeichnungen und die Gemälde vom Kelpy, Sägerochen oder Himmelsgucker, die auch den Romankapiteln ihre Überschriften geben – dient nur der „Wahrheit“: Die nämlich sei allein „im Dreck“ zu finden, im Abfalleimer der Evolution, „in den ordinären Details von Schleim und Schuppen und Unrat, jenen Details, in denen der Teufel steckt, aber auch die Engel und alles, was das Erdenrund umfasst […], und alles das ist mein Sujet, wenn ich mir die Fische vornehme“. Denn: „Einen Fisch zu fälschen ist keine so leichte Sache.“

Seinem eigentlichen Ziel kommt William Buelow Gould immer näher, während er sich in seiner den Gezeiten ausgelieferten Zelle im Salzwasser treiben lässt. Es ist nur konsequent: Gould will ein Meerestier werden, um sich auf diese Weise den Heilsversprechungen genauso wie den ausgeklügelten Folter- und Disziplinarsystemen der modernen Welt und ihrem ständigen Bekenntnis zum „NEUEN ZEITALTER“ zu entziehen.

Wir müssen uns William Buelow Gould als einen glücklichen Fisch vorstellen. Wir anderen sind dagegen dazu verdammt, an Land und unter den Menschen zu bleiben. Immerhin bleibt uns – trotz aller „Enttäuschung und Desillusion“, die wir als Leser in unserem Leben immer wieder erlebt haben – die kleine Flucht in eine jener papiernen Welten, die Romane wie „Goulds Buch der Fische“ für uns bereithalten.

Richard Flanagan: „Goulds Buch der Fische“. Aus dem Englischen von Peter Knecht. Berlin Verlag, Berlin 2002. 459 S., 24 €

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