bascha mika über Gegengift
: Oje, du fröhliche

Das Fest der Liebe naht mit großen Schritten, und herrlich zirpt es im Verborgenen

Es ist Weihnachten.

Das ist mir nicht entgangen, knurrt mein Lieblingsreaktionär.

Weihnachten ist das Fest der Freude. Freu dich!

Warum sollte ich? Hier geht es nicht um Freude. Weihnachten ist das Fest der Einkehr und Besinnung. Des Friedens und der Liebe natürlich. Ein stilles Erlebnis. Und – schon mal Weihnachten in dieser Art gesehen oder gar erlebt? Ohne Geschenketerror und Konsumstress?

Willst du jetzt das urbi et orbi sprechen oder was ist mit dir los? Normalerweise ist doch Konsumverzicht das zweitschlimmste Verbrechen für dich gleich hinter der Kapitalismuskritik.

Die Seele von Weihnachten geht zunehmend verloren, sagt mein Lieblingsreaktionär düster. Ich bin ein Mensch, der wenigstens einmal im Jahr das Gefühl haben will, dass die Welt in Ordnung ist.

Scharon kriegt einen Legopanzer, al-Qaida darf Silvesterknaller basteln, und Bush wird gefangen genommen und an den Marterpfahl gestellt.

Was soll der Quatsch?

Bisher hat der Zustand der Welt dich doch auch nicht weiter bekümmert.

Da war nicht Weihnachten.

Geh ins Kino. Schau dir „Harry Potter“ oder „Der Herr der Ringe“ an. Da kannst du dir deine Auszeit nehmen und dich in perfekte, in sich funktionierende Flucht- und Zauberwelten hineinträumen. Die werden dir da auf technisch höchstem Niveau geboten, und du brauchst sie dir noch nicht einmal selbst zu entwerfen.

Ich bin kein Kind mehr, schon vergessen?, murrt mein Lieblingsreaktionär.

Auch in dir lebt ein kleiner Harry und die Sehnsucht nach einer Märchenwelt. Und da du ja sonst – wenn du nicht gerade deinen Weihnachtskoller hast – die herrschende Ordnung auch nicht in Frage stellst, wirst du dich im Fantasy-Reich wie zu Hause fühlen. Dort funktioniert alles nach strengen Regeln und Gesetzen, selbst die Schurken akzeptieren das System. Das müsste dir doch gefallen.

Und was hat das mit Weihnachten zu tun?

Vorweihnachtlicher Eskapismus – weit verbreitet. Das Bedürfnis, aus der Realität zu flüchten, überfällt dann nicht nur dich. Nur sollen es kleine Fluchten sein, damit anschließend alles beim Alten bleibt.

Wo du diesen Unsinn wieder herhast, mault mein Lieblingsreaktionär. Ich bin ein durch und durch realistischer …

Eben. Und einmal im Jahr geht’s mit dir durch. Da ist es selbst dir in deiner durchrationalisierten, durchökonomisierten und durchtechnisierten Welt zu kalt, und du fängst an zu leiden. Plötzlich willst auch du, dass das Gute herrscht und die Bösen endlich einmal ihr Maul halten müssen.

Soll ich jetzt öfter ins Kino gehen?

Bevor du dich weiter durchheuchelst, sollten wir besser das Thema wechseln.

Aber es geht doch noch weiter, denn dann kommt Silvester. Auch so ein schreckliches Fest, das viel verspricht und nichts hält. Hast du schon mal eine Silvesterparty erlebt, die nicht depressiv war?

Na ja, ich …

Sag ich doch. Die einen sind deprimiert, weil sie sich an keinen einzigen guten Vorsatz vom letzten Jahr erinnern. Die anderen sind noch deprimierter, weil sie sich fürs neue Jahr schon wieder so viel vorgenommen haben, dass ihnen das Scheitern bereits vor Augen steht. Kennst du jemanden, der optimistisch ins neue Jahr geht?

Bush, der darf endlich Krieg führen.

Spar dir deinen platten Zynismus fürs nächste Jahr.

Na gut, dann Schröder. Der wird für Optimismus bezahlt.

Der zählt nicht.

Wie wär’s mit der scheuen Feldgrille?

Meinst du Guido Westerwelle, der seit Monaten nur noch im Verborgenen zirpt?

Werd nicht albern. Ich red vom Insekt des Jahres. Die Grille hat’s jetzt amtlich, dass sie eine bedrohte Spezies ist. Aber vielleicht bringt’s die FDP ja auch noch so weit.

Na toll, reizende Aussichten.

Apropos Aussichten, wenn du alles so schrecklich findest, was machst du denn nun an den Feiertagen?

Heiligabend bleib ich bis zum Ladenschluss im KaDeWe, und Silvester werd ich mit 500.000 Berlinern am Brandenburger Tor feiern.

Du bist verrückt.

Schon mal was von letaler Überdosis gehört?

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