Bulimie und Putenbrust

Radio Bremen ist der wahre Kuschelsender Deutschlands. Ein Blick hinter die Kulissen von „3nach9“ im Osterholzer Studio zeigt: Die politisierte Atmosphäre von früher ist längst dem heimelig-harmlosen Privatschnack gewichen

„In Ihren Gesichtern muss sich immer die Botschaft vermitteln: Die Sendung ist toll“

Wer einmal im gläsernen Berliner Kudamm-Studio die Sendung „Sabine Christiansen“ live mitverfolgt hat, weiß, in welch’ klirrend kalter, aseptischer Atmosphäre die ARD diesen pseudopolitischen Fast-Food-Talk produzieren lässt. Dagegen ist es nachgerade eine Wohltat, dass Radio Bremen „3nach9“, nach eigenen Angaben die „Mutter der deutschen Talkshows“, auch im 28. Jahr ihres Bestehens am Leben erhält. Die „3nach9“-Liturgie hat in der Tat etwas anrührend Mütterliches – Radio Bremen ist der wahre Kuschelsender des deutschen Fernsehens.

Weit draußen in der Osterholzer Hans-Bredow-Straße, wo der TV-Sender sitzt, harrt eine Schlange geduldiger Bremer Bürger um halb Zehn des Einlasses in das Allerheiligste – ins Studio 3 von Radio Bremen. Der Weg dorthin ist gesäumt von Fotos der „buten-un-binnen“-Moderatoren, über deren jüngste Gewichtsveränderungen sich die Wartenden leise auslassen. Die Atmosphäre im Studio ist gedämpft, freundlich, feierlich: Die Kulissen sind in einem warmen Orangeton gehalten, und selbst die notorisch hektischen Fernseh-Menschen mit Knopf im Ohr und bedeutendem Gesichtsausdruck machen hier einen überaus entspannten Eindruck.

Dann der Auftritt des Moderators: Giovanni di Lorenzo legt allen ihm zur Verfügung stehenden Schmelz (und das ist nicht wenig) in seine Stimme, um das Publikum zu begrüßen: „In Ihren Gesichtern muss sich pausenlos eine Botschaft vermitteln: Die Sendung ist toll“, gurrt der Chefredakteur des Tagesspiegel und erläutert die Fernsehpublikumsregel Nummer eins: „Machen Sie bitte eins nicht, schauen Sie nicht gelangweilt“. Eigentlich ist das gar nicht nötig, die Leute jubilieren von alleine: Bis zu zwei Jahre haben sie auf die heiß begehrten Eintrittskarten warten müssen.

Jetzt endlich ist es soweit: Die illustre Gästeschar nimmt am runden Tisch Platz, schnell wird noch ein wenig nachgeschminkt, werden Mineralwasser, weißer und roter Wein gereicht. Dann wirft Co-Moderatorin Amelie Fried den Small-Talk-Eisbrecher schlechthin in die Runde: „Lassen Sie uns ein bisschen über Weihnachten reden.“ Brav referiert der niedersächsische Ministerpräsident dann, wie er als Kind am Heiligen Abend Akkordeon spielen musste, di Lorenzo verrät, dass ihn seine Mutter stets an Weihnachten zur Weißglut treibt, und Nina Hagen erinnert, wie sich „Tante Ingrid“ einst an einer Karpfengräte verschluckte. Man redet ein wenig über den weihnachtlichen Speiseplan, ehe Frau Fried elegant zum Thema Bulimie überleitet: Die Schauspielerin Mareike Carrière hat 15 Jahre darunter gelitten – jetzt darf sie von der Krankheit erzählen und außerdem Werbung für ihren neuen TV-Film „Pommery und Putenbrust“ machen.

So geht das zwei Stunden lang: Man erfährt, dass di Lorenzo und Sigmar Gabriel Jahrgang 1959 sind und eine Zahnlücke haben, dass Nina Hagen einen religiösen Spleen hat, dass Robert Gernhardt immer ein Brunnen-Heft als Zeichnungs-Kladde mit sich führt, dass Zirkusdirektor Franz Althoff wirklich in einem Wohnwagen nächtigt und dass die Ossis Kondome „Mondos“ nennen.

Ein interessantes Kontrastprogramm zu all den privaten Harmlosigkeiten bekam präsentiert, wer sich nach der Sendung noch die „3nach9-Classics“ ansah: Im November 1989 saß Gerhard Löwenthal im selben Studio und stritt sich mit einem DDR-Bürger leidenschaftlich über den richtigen Freiheitsbegriff und darüber, ob ein „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ möglich sei. Giovanni di Lorenzo moderierte damals schon, vor 13 Jahren. Allerdings deutlich weniger weichgespült und hastig an einer Zigarette ziehend. Am Freitag ließ er sich von Nina Hagen eine Spange in sein Haar flechten. Das Feuer hat ein wenig nachgelassen, leider. Markus Jox