Ein Land bleibt sich treu

Mit dem Gerichtsentscheid gegen das Zuwanderungsgesetz ist der migrationspolitische Frühling vorbei. Zugleich erfährt die neue Mitte die Globalisierung des Arbeitsmarkts

Heute sind Migranten wieder das, wassie meistens waren: Sicherheitsrisiko und Last

Die SPD hat Wort gehalten. „In dieser Legislaturperiode wird es mit der SPD kein Einwanderungsgesetz geben“, versprachen Bundeskanzler Gerhard Schröder und SPD-Generalsekretär Franz Müntefering im Mai 2000. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom vergangenen Mittwoch ist es amtlich: Der kurze migrationspolitische Frühling ist vorbei. Deutschland bekommt auf absehbare Zeit kein Einwanderungsgesetz.

Zur Erinnerung: Am 23. Februar 2000, während der Eröffnung der Computermesse CeBIT in Hannover, hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder vorgeschlagen, den seit 1973 bestehenden Anwerbestopp zu lockern. Ein paar tausend Computerspezialisten sollten angeworben werden. Was als Ausnahmeregelung gedacht war, entwickelte angesichts explodierender Aktienkurse eine Eigendynamik. Etwas für deutsche Verhältnisse Unerhörtes geschah.

Der damalige CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz warf der SPD im Mai 2000 vor, ihre Einwanderungspolitik sei halbherzig und restriktiv. Polenz forderte, die Grenzen nicht nur für Computerspezialisten, sondern auch für Fachkräfte anderer Wirtschaftszweige zu öffnen. Gewerkschaften, Unternehmerverbände, die Kirchen und alle im Bundestag vertretenen Parteien wollten plötzlich das eine: die Lebenslüge, Deutschland sei kein Einwanderungsland, beenden. Für ein paar Monate lauteten die wichtigsten neuen Paradigmen: Einwanderung ist nicht Last, sondern Gewinn. Es bot sich die historisch einmalige Chance, alle Kräfte der zivilen Gesellschaft zur rationalen Ausgestaltung des Einwanderungslandes Deutschland zu bündeln.

Das alles ist mit dem Karlsruher Urteilsspruch vom 18. Dezember Makulatur. Zwar hatte das Bundesverfassungsgericht nur über das Procedere der Abstimmung im Bundesrat zu richten. Aber das Gericht offenbarte auch, was seit Monaten offensichtlich ist: Deutschland ist wieder in der migrationspolitischen Eiszeit der Achtziger- und Neunzigerjahre angekommen. Was auf uns zukommt, ist kleinkariertes Parteiengezänk, geleitet von kurzfristigem Machtkalkül.

Der große Verlierer der gescheiterten „Jahrhundertreform“ ist Otto Schily. Der kühle Manager der Macht wurde gedemütigt, und das ausgerechnet von Politikrabauken wie dem hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU). Schilys „Lebenswerk“, sein vermeintliches Meisterstück der Vermittlung zwischen den Parteien, erweist sich rückblickend als grandiose strategische Fehlleistung. In jedem privatwirtschaftlich geführten Unternehmen hätten solch kapitale Fehler Schily den Job gekostet.

Es seien hier lediglich die gravierendsten genannt: Nur ungenügend mobilisierte Schily vor zwei Jahren das reformfreudige Potenzial in der Gesellschaft für die Umsetzung des Zuwanderungsgesetzes. Stattdessen ließ er keine Gelegenheit aus, Kirchen, Menschenrechtsgruppen und den grünen Koalitionär gründlich vor den Kopf zu stoßen. Er ignorierte die Ergebnisse der parteiübergreifenden Süssmuth-Kommission. Lieber übernahm er in dem in seinem Haus erarbeiteten Referentenentwurf Inhalte und ordnungspolitische Vorstellungen des politischen Konkurrenten, der CDU. Nur so, rechtfertigte Schily sein autoritäres Vorgehen, habe die Reform eine Chance, auch im Bundesrat eine Mehrheit zu finden. Schily hat sich überschätzt.

Mit der Niederlage in Karlsruhe steht der 70-Jährige ohne „Meisterstück“ da und ist nur noch, was er schon immer war: ein selbstgefälliger, ichbezogener Elitär, dessen politisches Lebenswerk nun darin bestehen wird, die nachhaltigste staatsautoritäre Innenpolitik der letzten dreißig Jahre gestaltet zu haben. Von Otto Schily in die Irre geführt, ist mit Rot-Grün künftig kein migrationspolitischer Staat mehr zu machen. Von nun an wird die CDU unter der geistigen Führung von Roland Koch in der Debatte den Ton angeben, denn die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen arbeiten für den Hessen.

Die „neue Mitte“ und die aufgeklärten Mittelschichten sind heute, anders als im Jahr 2000, nicht mehr selbstbewusst und zukunftsoptimistisch, sondern nur noch kleinmütig und verzagt. Das ansonsten durchaus reformfreudige Milieu steht seit Monaten vor dem Trümmerhaufen der eigenen Ideologie. Die einst vergötterte New Economy ist in sich zusammengestürzt, die Aktienkurse bleiben auf Talfahrt, der drohende Krieg im Irak verunsichert ebenso wie die Folgen des 11. September. Mit Blick auf die eigenen Aktiendepots trägt die Zukunft nicht mehr die Farbe Rosa-Rot, sondern Schwarz.

Die „neue Mitte“, die noch vor kurzem jeden modischen Schnickschnack über Flexibilität und Deregulierung der Arbeitsmärkte nachplauderte, verändert in diesen Wochen ihre Agenda. Auf der Tagesordnung steht nicht mehr blindes Vertrauen in den Markt, sondern die Rettung der eigenen Haut und die Sicherung der eigenen Besitzstände. Viele der hoch qualifizierten Arbeitskräfte in den Branchen der neuen Technologien, die sich vor zwei, drei Jahren auf der Siegerstraße wähnten, machen neue Erfahrungen. Sie erfahren nun am eigenen Leib, Teil eines globalisierten Marktes für Arbeitskräfte zu sein, der streng der Verwertungslogik des Kapitals unterworfen ist. Und die hat die Entwertung der Arbeitskraft zum Ziel. Glaubte man unter den Bessergestellten im Jahr 2000 noch, hochmütig auf die protestierenden und wütenden Bauarbeiter herabschauen zu dürfen, spürt man nun selbst den Druck, den die hoch qualifizierten, flexiblen und mobilen IT-Kräfte aus Polen, Ungarn, Litauen, Russland und Indien auf den eigenen Marktwert ausüben.

Ein Milieu ist verunsichert und sucht Halt. Ein Zuwanderungsgesetz mit der vorgesehenen restriktiven Ausrichtung am Bedarf des heimischen Arbeitsmarktes hätte in dieser Situation ein wenig Sicherheit gegeben. Sehr wahrscheinlich, dass dieser Teil des Gesetzes in den nächsten Monaten mit pragmatischen Regelungen und der deutlichen Betonung auf „Zuwanderungsbegrenzung“ umgesetzt wird.

Der Verlierer heißt Otto Schily. CDU-Politrabauken wie Roland Koch haben ihn gedemütigt

Schlechter sieht es in angstbesetzten Zeiten für die humanitären Teile des gescheiterten Gesetzes aus. Der Schutz vor nichtstaatlicher Verfolgung, die Verbesserung des Status der Illegalen, Integrationskurse für Neuzuwanderer und die Heraufsetzung des Nachzugsalters auf achtzehn Jahre, wie das die EU-Regelung und die Grünen noch vor Jahresfrist forderten, dürften vielen der einst Wohlmeinenden als Luxusgut erscheinen. Hier wird sich in den kommenden Monaten unter dem Diktat von Roland Koch vieles zum Schlechten entwickeln.

Wer außer den üblichen mahnenden Stimmen aus Menschenrechtsgruppen, Gewerkschaften und Kirchen sollte Widerstand leisten? Nachdem es sich Deutschland 2000/2001 leistete, rational und vernünftig über Zuwanderung zu diskutieren, kehrt es zu alten Gewohnheiten zurück. Heute sind Migranten wieder das, was sie meistens waren: Sicherheitsrisiko und Last. Ein Land bleibt sich treu.

EBERHARD SEIDEL