Die alliierten Schwächlinge im Norden

Die USA und Kanada sind sich fremd geworden, seit Kanada vieles von der europäischen Kritik an Bush teilt

WASHINGTON taz ■ Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 haben sich die engen Partner USA und Kanada zunehmend entfremdet. Kanadier empfinden ein tiefes Unbehagen über Amerikas Krieg gegen den Terror. Und für viele speist sich dieses Gefühl nicht aus abstrakten Medienberichten, sondern aus Alltagserfahrungen. Tausende pendeln täglich über die belebten Grenzübergänge zur Arbeit und berichten von Schikanen durch die US-Grenzpolizei.

Als vor wenigen Wochen ein kanadischer Geschäftsmann syrischer Herkunft auf dem New Yorker Flughafen verhaftet und nach Syrien abgeschoben wurde, reagierten Politik und Öffentlichkeit zornig. Außenminister Bill Graham beschwerte sich bei seinem US-Amtskollegen über die Überwachungsmethoden, die biometrische Daten von harmlosen Reisenden erfasse, als „diskriminierend und unfreundlich“. Später legte das Außenamt in Ottawa noch nach und warnte seine Bevölkerung, insbesondere Einwanderer aus arabischen Ländern, offiziell vor Reisen in die USA.

Viele Kanadier bezweifeln, dass der Sicherheitswahn der US-Amerikaner weiteren Terror verhindern kann. Die US-Regierung hingegen glaubt, dass Kanadas großzügige Einwanderungsgesetze Terroristen zum Missbrauch einladen – ein Vorwurf, der Kanadiern nur ein spöttisches Lächeln entlockt. „Kanada wird von den USA zu Unrecht als Sündenbock benutzt“, sagt Charles Cormier vom Weltbank Institut in Washington. Als die USA ihren Luftraum nach dem 11. September sperrten, erlaubte Kanada hunderten von Flugzeugen die Landung. Auch in Afghanistan seien kanadische Soldaten im Einsatz. Nachdem fünf von ihnen im Frühjahr von US-Amerikanern versehentlich getötet wurden, brauchte das offizielle Washington ungewöhnlich lange, um den Fehler einzugestehen und sich formell zu entschuldigen. „So etwas verletzt“, sagt Cormier.

Die Beziehungen zwischen beiden Staaten waren jedoch bereits vor den Terroranschlägen angespannt. Ein Grund: Zwischen beiden Regierungschefs stimmt die Chemie nicht. Bush junior verzeiht es dem kanadischen Premier Jean Chrétien nicht, seinen Vater einst als untauglichen Staatsmann bezeichnet zu haben. Nun straft er Chrétien mit Missachtung.

Doch es ist mehr als die persönliche Abneigung. Kanada widerstrebt die Neuausrichtung der US-Außenpolitik. Bereits Bushs erste Amtsmonate hätten viele Kanadier als Schlag ins Gesicht empfunden, sagt Stephen Toope vom Kanadischen Verband für internationales Recht: „Kanadier sind überzeugte Multilateralisten. Bushs Rückzug aus internationalen Abkommen steht im Gegensatz zu unseren Grundprinzipien.“ Toope wirft der US-Regierung vor, auf die Terrorbedrohung einseitig militärisch zu reagieren. Für Kanada seien dagegen multilaterale Verträge und das Völkerrecht eher noch wichtiger geworden.

Auch in der Handelspolitik gärt es. So streitet man um Holz, Wasser, Stahl und Lachs. Das haben beide Seiten schon immer getan, doch ausgerechnet der Republikaner Bush entpuppte sich, kaum saß er im Weißen Haus, nicht als der angekündigte Freihändler, sondern wandelte sich alsbald zum Protektionisten. Um die eigenen Industrien zu schützen, erhob er auf Holz- und Stahlerzeugnisse einseitig Zölle – ein Schritt, der in Kanadas exportorienter Wirtschaft zehntausende Arbeitsplätze gefährdet.

Die Spannungen entladen sich dann gelegentlich in martialischen Schlagzeilen. So bezeichnete das konservative US-Magazin National Review kürzlich in einer Titelgeschichte die Kanadier als „Schwächlinge“ und scherzte zynisch, ob man den Nachbarn im Norden nicht bombardieren sollte. Die Zeitung Toronto Globe and Mail konterte ironisch devot. Kanada sehne sich geradezu nach einer „kleinen Invasion, da wir ein hoffnungslos schwacher und nutzloser Alliierter sind“.

Hinter den verbalen Attacken stecken fundamentale Unterschiede zwischen beiden Nationen. Kanada fühlt sich Europa näher. Seine Sozialsysteme sind denen jenseits des Atlantiks ähnlich, weshalb US-Amerikaner ihre Nachbarn daher gern als „Sozialisten“ bezeichnen. Kanadier sind stolz auf ihre sicheren Städte und geringe Kriminalität. Sie sehen sich als tolerante Weltbürger und haben TV-Shows mit dem Titel „Die dummen Amerikaner“. Die liberale politische Elite in Kanada pflegt ihren „Antiamerikanismus“, ähnlich wie die Republikaner in den USA gerne „Canada-Bashing“ betreiben.

Bei all dem ist sich Kanada stets unsicher ob seiner eigenen Rolle gegenüber dem mächtigen Nachbarn. Mal will es lieber „Sweetheart“ sein, wie Toope sagt, dann wieder der Hund, der seinem oft ungeliebten Nachbarn in die Wade beiße.

Beide verbindet eine ausgeprägte Hassliebe, wie ein altes Paar, das sich angeifert, aber auch nicht ohne einander leben kann. MICHAEL STRECK