philipp maußhardt über Klatsch
: Das bezaubernde Antlitz gefallener Engel

Erst hochjubeln, dann fallen lassen – das wirkt wie eine Reinigungskassette auf die Massenpsyche der Zuschauer

Heute Morgen, als wir zum fünften Geburtstag von Henri um den Kaffeetisch saßen und ihm noch einmal von seiner wundersamen Geburt erzählten, überraschte er uns gleich zwei Mal: Den mütterlichen Vortrag kürzte er ab, indem er seinen Bauchnabel zeigte und sagte: „Ich weiß, und daran war die Zündschnur befestigt.“ Dann kündigte er an: „Wenn ich groß bin, will ich ein gefallener Engel werden.“

Aufstieg und Fall sind wie das Ein- und Ausatmen. Engel sind im Grunde sehr langweilige Wesen. Gesichtslos und anonym. Erst wenn ein Engel zu fallen beginnt, fängt er an, uns Menschen zu faszinieren. Winona Ryder zum Beispiel hatte mich nie sonderlich interessiert. Gut, die Hollywoodschauspielerin, 31, ist wunderschön, und da schaut man schon mal hin, wenn ein Bild von ihr irgendwo abgedruckt ist. Seit sie allerdings in der Vorweihnachtszeit letzten Jahres in einem Kaufhaus in Beverly Hills Klamotten im Wert von 5.000 US-Dollar gestohlen hat, nehme ich an ihrem Schicksal erst richtig teil. Ich litt mit ihr, als sie auf der Anklagebank saß und verhört wurde wie eine Ladendiebin. Eigentlich hätte sie ja neulich, am 6. Dezember, dafür von einem Gericht verurteilt werden sollen, aber der Richter wollte wohl den harten Spruch erst im neuen Jahr fällen – aus Rücksicht auf die Weihnachtsgefühlen der Amerikaner.

Winona Ryder im Gefängnis. Bei dieser Vorstellung schaudert’s mich wohlig. Ein gefangener Engel ist die Steigerungsform des gefallenen Engels. Darf man öffentlich sagen, wie schade man findet, dass Boris Becker nicht wenigstens eine Woche lang ins Gefängnis musste? Ihm hätte es nichts anhaben können, aber allen anderen viel geholfen. „Hosianna!“ und „Kreuziget ihn!“ geht ganz schnell hintereinander. Es funktioniert wie eine Reinigungskassette für die Massenpsyche der Zuschauer. Erst hochjubeln, dann fallen lassen. Es gibt kein schöneres Schauspiel.

In den USA gibt es einen Fernsehkanal, der nur über die Prozesse der Reichen und Schönen berichtet. Bei „Celebrities Justice“ (Promijustiz) habe ich erfahren, dass die mir bis dahin völlig unbekannte Lizzie Grubman, eine wirkliche Schönheit aus der New Yorker Werbebranche, vor wenigen Tagen aus dem Gefängnis entlassen wurde, in dem sie 40 Tage wegen Kokainkonsums verbringen musste. Bei der Entlassung war sie ungeschminkt und sah sehr mitgenommen aus. Die Bilder waren ergreifend.

Ich dachte an Günther Kaufmann, den Münchner Schauspieler, der zurzeit wegen Totschlags im Gefängnis sitzt, und an René Weller – nein, an den dann doch nicht, denn berühmte Boxer müssen in ihrem Leben eine Zeit lang gesessen haben, sonst gelten sie wie Henri Maske oder Axel Schulz zu Recht als Weicheier.

Wäre es nicht wunderbar, wenn wir Leo Kirch, Thomas Haffa oder auch Ernst-August von Hannover einmal beim täglichen Hofgang zusehen könnten? Im Gänsemarsch, einer hinter dem anderen. Von Peter Graf reden die Gefangenen in Ulm noch heute, und Avram, der Münchner Tourneemanager von Michael Jackson, war in der Justizvollzugsanstalt Stadelheim gar so etwas wie eine Respektsperson bei seinen Mitgefangenen. Am Tag seiner Entlassung verabschiedete er sich von vielen mit Handschlag. Draußen vor dem Tor wartete ein dicker Mercedes.

Erfolg allein ist langweilig. Ein Fehltritt, es muss ja nicht gleich Mord sein, rundet das Leben berühmter Persönlichkeiten erst ab. Oliver Kahn ahnt das wohl, und so übt er derzeit das Über-die-Stränge-schlagen, allerdings in einem noch nicht gerichtsrelevanten Stadium. Wir warten noch ab, aber unsere Geduld mit Langweilern à la Michael Schumacher oder Günther Jauch hat ein Ende. Wenigstens ein uneheliches Kind wollen wir sehen oder eine satte Geschwindigkeitsüberschreitung!

Einen Tag vor Weihnachten besuchte ich im Gefängnis von Singen am Hohentwiel einen Mann, der mir ebenfalls als gefallener Engel erschien. Wir saßen im Besuchszimmer an einem Tischchen, auf das die Gefängnisleitung sogar einen rote Christrose zum Schmuck aufgestellt hatte, und unterhielten uns, wie es so weit kommen konnte. Der 62-jährige, nennen wir ihn Professor Allermann, hatte jugendlichen Drogenabhängigen viele Jahre lang aus der Sucht geholfen, ehe er anfing zu betrügen, zu stehlen, zu misshandeln. Zum Abschied holte ich ihm noch aus dem gefängniseigenen Automaten eine Tafel Ritter-Sport (Traube-Nuss) heraus. Er sah so glücklich aus, als der Justizangestellte sie ihm übergab.

Fragen zu Klatsch?kolumne@taz.de