Weihnachten für Dissidenten

China begnadigt seinen prominentesten politischen Gefangenen und zwei Schlüsselfiguren der neuen Arbeiterprotesteim Land. Dies verweist auf einen unterschiedlichen Umgang der Justiz mit politischem und ökonomischem Protest

aus Peking GEORG BLUME

Weihnachtsgeschäfte sind in China längst weit verbreitet, weihnachtliche Barmherzigkeit bleibt dagegen unbekannt. So wird kein Chinese auf die Idee gekommen sein, dass die eigene Regierung einen solchen Akt vollzog, als sie Heiligabend ihren prominentesten politischen Gefangenen, den 59-jährigen Demokratievorkämpfer Xu Wenli, ausreisen ließ. Nach Barmherzigkeit sollte es aber aussehen – fürs westliche Publikum.

Xu hatte die Umtriebe seiner Regierung längst durchschaut, als er zwölf Flugstunden später von seiner in den USA lebenden Tochter in Chicago in Empfang genommen wurde. „Es sieht so aus, als sei ich ein Weihnachtsgeschenk von Präsident Jiang Zemin an Präsident George Bush. Im politischen Spiel werden Einzelpersonen wie ich eben missbraucht“, fügte sich Xu seinem Schicksal. Denn er war froh, „wieder ein freier Mann zu sein“.

Gefreut haben dürfte sich auch Bundeskanzler Gerhard Schröder, der noch diese Woche nach Peking fährt. Im Chor mit anderen westlichen Regierungen hatte sich Berlin für die Freilassung des im Dezember 1998 zu dreizehn Jahren Haft verurteilten Xu eingesetzt. Xu hatte wenige Monate zuvor mit Gleichgesinnten die Demokratische Partei Chinas (DP) gegründet. Doch sie wurde nur Wochen nach ihrer Gründung verboten und dutzende ihrer Führer festgesetzt und verurteilt. Zwei weitere Anführer, Wang Youcai und Qin Yongmin, die damals mit Xu wegen „Gefährdung der Staatssicherheit“ zu elf und zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurden, sind bis heute in Haft.

Von einer Verbesserung der Lage politischer Dissidenten in China kann also, nur weil Xu entlassen wurde, keine Rede sein. Den Sympathisanten seiner kleinen Partei geht es wie eh und je: Man trifft sie nur auf konspirativen Versammlungen in geheimen Hinterzimmern. Viel steht auf dem Spiel, denn der Untergrund ist immer noch erstaunlich gut vernetzt. So ließ sich eine der bislang aufsehenerregendsten Streikbewegungen in der Geschichte der Volksrepublik, der Metallarbeiterstreik in der nordostchinesischen Stadt Liaoyang im Frühjahr dieses Jahres, auch auf geheime DP-Aktivitäten zurückführen. Bei dem Streik wurden vier Männer als Rädelsführer festgenommen.

Für China innenpolitisch weit bedeutsamer als die Freilassung Xus war deshalb ein weiterer Gnadenakt: Vergangenen Freitag kamen zwei der Liaoyanger Streikführer überraschend frei. Dabei kam ans Licht, dass auch gegen die anderen zwei in Behördengewahrsam Verbliebenenen bisher keine offizielle Anklage erhoben wurde.

Wenngleich damit klar wurde, wie leicht der chinesische Staat immer noch seine eigenen Gesetze bricht, indem er Menschen ohne Begründung festhält, waren den Streikenden wohlgesinnte Beobachter hocherfreut: Will Peking etwa darauf verzichten, in dem weltweit publizierten Fall eine Antistreikjustiz ins Leben zu rufen? Wenn schon nicht für den in China heute seltenen politischen, so doch für den umso häufigeren ökonomischen Protest könnte dies weit reichende Folgen haben. Denn das hieße, Streiks wären erlaubt.

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