Auf der Suche nach einem Untoten

Der Berliner Helmut Kuhn fahndet seit 25 Jahren nach seinem Vater. Der ist 1977 während einer Segelreise in der Südsee verschollen. Jahrelang hat der Sohn mit anderen Hinterbliebenen der Urlaubergruppe gesprochen. Doch alle Spuren verliefen ins Ungewisse. Was bleibt, ist ein grausamer Verdacht

„Ich nahm mir schon als Kind vor herauszufinden, was wirklich passiert ist“

von BIANCA KOPSCH

Der Totenkopf ist eine Erinnerung an seinen Vater. Hohl und mit abgesägter Schädeldecke liegt er auf Helmut Kuhns Schreibtisch. Ein Geschenk für den Sohn, ein alter Anatomieschädel noch aus Studienzeiten. Der Vater, der auch Helmut heißt, war Chirurg. Vor 25 Jahren hat sein Sohn ihn zum letzten Mal gesehen, da war dieser selbst gerade 14.

Vor einer Turnhalle in Fulda, wo der Junge damals mit seiner Mutter wohnte, verabschiedeten sich die beiden. Die Eltern waren geschieden, der Vater lebte in Kassel und liebte Abenteuerreisen. Sein nächstes Ziel war die Karibik: Von dort aus wollte er mit einer Segeljacht den Atlantik überqueren.

Nach ihrem letzten Treffen vor der großen Reise hatte der Hobbyabenteurer seinen Sohn noch zum Sport gefahren. „Bei der Verabschiedung hatte ich plötzlich so ein ungutes Gefühl“, erinnert sich Kuhn. Sein Vater kam nie zurück. Er verschwand mit der Segeljacht in der Südsee. Seitdem kein Lebenszeichen, kein Todesbeweis – ein ungeklärter Fall: „Das Tragische an dem Verschwinden ist, dass man so eine Geschichte nicht einfach abschließen kann. Es gibt weder Grab noch Todestag und vor allem keine eindeutige Erklärung. Die Geschichte hat mich mein ganzes Leben beschäftigt“, sagt der heute 40-jährige Helmut Kuhn.

Jetzt hat er sie sich von der Seele geschrieben. Das Buch heißt „Nordstern“ und ist ein Roman mit authentischem Hintergrund und autobiografischen Zügen. Kuhn, der mittlerweile seit fast zehn Jahren in Berlin lebt, erzählt, was damals geschah und wie die Vergangenheit sein Leben beeinflusst hat.

Am 18. März 1977 startet die Segeljacht „Nordstern“ von der Karibikinsel Antigua zum großen Törn über den Atlantik. An Bord sind Kuhns Vater und drei weitere deutsche Urlauber sowie der Skipper und dessen Geliebte. Ziel ist Lissabon, doch da kommen sie nie an. Bei ruhiger See verschwindet die „Nordstern“. Spurlos. Die Polizei fahndet, die Illustrierte Stern schickt ein Reporterteam zur Recherche. Es gibt keine Beweise, nur einen Verdacht: Der Skipper und seine Geliebte haben die Urlauber umgebracht. Sie wollten einen Schiffbruch vortäuschen und offiziell aussteigen.

Der Skipper, ein ehemaliger Metzger aus dem Rheinland, war hoch verschuldet. Es wird vermutet, er wollte seinen Gläubigern entkommen und untertauchen. Zeugen wollen ihn und seine Freundin auch nach ihrem offiziellen Verschwinden immer wieder gesehen haben – mit umlackierter Jacht, jetzt weiß statt rot. Der in dem Fall ermittelnde Kommissar kommt in seinem Schlussbericht zu dem „zwingenden Schluss“, dass der Skipper und seine Freundin die anderen Urlauber „getötet haben müssen“, berichtet Helmut Kuhn. Dennoch erlässt die Staatsanwaltschaft keinen Haftbefehl. „In der Karibik jemanden finden zu wollen ist, wie die Stecknadel im Heuhaufen zu suchen. Diese Mühe wollten die sich wahrscheinlich ersparen“, vermutet Kuhn. Nach drei Jahren Ermittlungen wird der Fall zu den Akten gelegt.

Helmut Kuhn joggt gern, rudert oder liegt am See. Hauptsache draußen, sagt er. Das macht den Kopf frei. Als Jugendlicher habe er die quälenden Gedanken an das ungewisse Schicksal seines Vaters nicht ertragen. Mit 15 fing er an „sich richtig zu besaufen“: „Mein einziges Ziel war, einen gewissen Grad zu erreichen, wo du nicht mehr nachdenkst, einfach weg bist.“

In der Schule war er Außenseiter. Ein Scheidungskind mit verschollenem Vater, das war zu viel für seine kleinbürgerlichen Mitschüler, sagt er. Auf die Frage nach dem Verbleib seines Vaters konnte er ihnen keine klare Antwort geben – genauso wenig wie sich selbst: „Mein Vater war für mich nach seinem Verschwinden ein Untoter. Die ganze Geschichte war immer so unerledigt, dass ich mir schon als Kind vorgenommen habe, eines Tages herauszufinden, was wirklich passiert ist.“

Kuhn wurde Journalist. Recherchieren und Informationen zusammenfügen machte er zu seiner Lebensaufgabe. Aus Paris und New York schrieb er für deutsche Zeitungen und Magazine, reiste um die Welt, fand keine Ruhe. 1994 kam er zurück nach Berlin. In der Hauptstadt hatte er früher Geschichte und Publizistik studiert.

20 Jahre nach dem Verschwinden seines Vaters begibt sich Helmut Kuhn auf Spurensuche. Er durchforstet Polizeiakten, fährt mehrmals in die Karibik und sucht die Hinterbliebenen der anderen Verschollenen auf. Was können sie zur Klärung des Falls beitragen? Und wie hat die Katastrophe ihr Leben beeinflusst?

Kuhns Ergebnis ist düster: Die Ehefrau des Skippers findet er verwahrlost und geistig verwirrt in einer Düsseldorfer Wohnung. Nachts träumt sie vom Schiff, sagt sie ihm. Ihr einer Sohn ist Alkoholiker und Fußballhooligan. Er war sein Leben lang damit konfrontiert, dass sein Vater nicht nur die Familie verlassen hat, um mit seiner Geliebten in der Südsee zu segeln, sondern auch als Mörder verdächtigt wird.

Die Tochter der Geliebten des Skippers wurde vom Vater verstoßen, weil sie ihrer untreuen Mutter immer ähnlicher wurde. Die Mutter einer der verschollenen Urlauber erhängte sich – aus Trauer und Einsamkeit nach dem Verschwinden ihres Kindes. Andere Hinterbliebene verdrängen die ungeklärte Vergangenheit, ein Leben lang, meint Helmut Kuhn. All das fand er bei seiner Spurensuche heraus und sah seine Ausgangstheorie bestätigt: Eine Katastrophe in der Vergangenheit produziert neue Katastrophen in der Gegenwart.

„Das Tragische an dem Verschwinden ist: Es gibt weder Grab noch Todestag“

Drei Jahre hat er recherchiert, die Zweifel von damals durchlebt und die Schicksale von heute. Daraus hat er ein packendes Buch gemacht: eine Mischung aus Krimi und Vater-Sohn-Geschichte. Er erzählt von seiner obsessiven Spurensuche genauso wie von seinen aufgewühlten Gefühlen.

Es ist eine persönliche Geschichte, kein Tatsachenbericht. Die Namen der Personen sind geändert, einige Begebenheiten auch erfunden. Ein Gefüge aus Fakten und Fiktion: „So konnte ich emotionaler schreiben und meine Empfindungen besser in das Buch mit einbeziehen“, sagt Kuhn. Er ist der Ich-Erzähler, dem vor Aufregung schwindelig wird, als er die verwirrte Ehefrau des Skippers interviewt. Er ist der außenstehende Beobachter als er sich als Junge zum letzten Mal von seinem Vater verabschiedet. Ein Wechsel von Perspektiven, ein Spiel mit Nähe und Distanz.

Die Zuhörer lauschen angespannt, wenn Helmut Kuhn im Berliner Kulturveranstaltungszentrum Podewil auf dem Podest sitzt und aus seinem Buch vorliest. Sie stellen viele Nachfragen, wollen jedes Detail der Geschichte ergründen, um sie zu verstehen. „Anscheinend habe ich damit einen Nerv getroffen. Das Authentische der Geschichte hat eine enorme Kraft. Die Leute sind oft stark berührt, vielleicht auch weil viele selbst eine ungeklärte Vater- oder Mutter-Kiste mit sich herumschleppen“, sagt der Autor.

„Das Buch zu schreiben war für mich wie ein Reinigungsprozess: schön und schmerzhaft zugleich.“ Helmut Kuhn wirkt entspannt. Er ist ein bäriger Typ – früher war er Gewichtheber – mit freundlichen Augen. Nichts Gehetztes liegt in seinen Bewegungen, nichts Suchendes in seinem Blick. Mit ruhiger Stimme erklärt er, dass jetzt auch der Albtraum weg ist, der ihn jahrelang verfolgt hat: Sein Vater auf einem Schiff, ein Schuss, der Vater fällt über die Reeling.

Geblieben sind Erinnerungsstücke: Eine Sammlung alter Kompasse aus Messing ziert neben dem Totenschädel den Schreibtisch. „Ganz werde ich die Geschichte wohl nie abschließen können“, meint Kuhn. An der Wand hängt im goldenen Rahmen eine Karte aus dem Jahre 1758: Antigua, die „mystische Insel“.

Helmut Kuhn:„Nordstern“, marebuchverlag, Hamburg, 256 S., 19,90 €