: Politik ist Bewegung fürs Volk
Schwarz-Schill bewirkt eine Bildungs- und Bewegungsoffensive: Von der Schülerin bis zur Krankenschwester gehen die Menschen zu Zehntausenden auf die Straßen. Und informieren sich über den Weg von der Volksinitiative zum Bürgerentscheid
von KAIJA KUTTER und SANDRA WILSDORF
Dem Senat sei Dank. Er hat Schüler, Eltern, Lehrer, Mitarbeiter von sozialen Projekten, MigrantInnenorganisationen, Studierende, Hochschullehrer und viele mehr rund ums Jahr auf Trab gehalten. Die Regierenden haben unter ihnen gewissermaßen ein gigantisches Volksbildungsprojekt angestoßen.
Lernziel 1: Du musst deine Interessen artikulieren. Die Regierenden wissen nicht, was gut für dich ist.
Lernziel 2: Erhört werden.
Lernschritte: Wie informiere ich die Presse? Wie male ich ein Transparent? Wie organisiere ich eine originelle und öffentlichkeitswirksame Aktion? Ein Crashkurs in praktischer Bürgerbeteiligung.
Lernziel 3: Mens sana in corpore sano (gesunder Geist in gesundem Körper). Bewegung tut gut, Bewegung an frischer Luft noch besser. Also demonstrieren die HamburgerInnen zu Fuß, auf Fahrrädern, schwimmend in der novemberkalten Alster („Sozialpolitik geht baden“).
Am 8. März machen sich etwa 2000 Frauen bunt und laut zum Rathaus auf. Es ist seit Jahren die erste große Demonstration zum internationalen Frauentag. Mitte April folgen 10.000 MitarbeiterInnen von Kindertagesstätten, Krankenhäusern und Jugendhilfeeinrichtungen, BauwagenbewohnerInnen, GewerkschafterInnen, MigrantInnen, St.-Pauli-Fans und Jugendliche dem Aufruf von Gewerkschaften und Sozialpolitischer Opposition (SOPO). Anlass: die Haushaltsberatungen. Motto: „Der Senat soll einpacken!“
Er packt nicht ein, und so sind im Juni 50.000 Schüler, Lehrer, Studierende, Eltern und Großeltern vor dem Rathaus. Alle „Feuer und Flamme für Bildung“ und gegen die Politik von Bildungssenator Rudolf Lange (FDP). Die besonders besparten Gesamtschulen etablieren außerdem Hamburger Montagsdemonstrationen, jede Woche zur Schulbehörde. Überhaupt gibt es fast an jedem Tag an irgendeiner Schule phantasievollen Protest. Ebenso wie an den Hochschulen. Und Freitags sind Freitagsdemonstrationen: Die AnwohnerInneninitiative Stresemannstraße will verhindern, dass ihre Straße wieder durchrast werden darf.
Die Wut mobilisiert und eint: Eltern-, Lehrer-, Schülerkammer und Lehrergewerkschaften GEW und Deutscher Lehrerverband beleben ihr „Bündnis für Bildung“ wieder, die von Spardruck gequetschten Frauenprojekte schließen sich in einem „Frauenprojektetreffen“ zusammen. Die Gewerkschaften initiieren Volkspetitionen und -initiativen und sammeln spielend Zehntausende von Unterschriften für Bildung, gegen Sonntagsöffnung und Privatisierung städtischer Krankenhäuser. Die Sozialpolitische Opposition wird zu einer Bewegung aller, denen das Leben in sozialer Kälte nicht behagt.
Immer wieder gibt es Aktionen von PädagogInnen gegen geschlossene Heime, Professoren halten öffentliche Vorlesungen. Als Innensenator Ronald Schill Ärzte, Geistliche, Journalisten und Anwälte auch verdachtsunabhängig belauschen will, reicht es auch ebenjenen: Gemeinsam und öffentlich protestieren sie ihren mächtigen Unmut. Der Senat erschrickt und bessert nach.
Leichter erträgt die Regierung die beinahe täglichen Bambule-Demos. Zu einer Jahreszeit, in der die Menschen sonst keksbefüllt vor der Heizung hocken, treffen sie sich in diesem Jahr zu abendlichen Spaziergängen. Eine dritte Sportstunde für alle. Olympiareif.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen