Arbeitslose in der Türkei: Zurück aufs Land nach Anatolien
In der Türkei steigt die Arbeitslosenrate auf rund 25 Prozent. Betroffen sind besonders Arbeiter der ehemaligen Staatsmonopole und der Werften. Sie gehen zurück aufs Land.
![](https://taz.de/picture/325845/14/tuerkei_07.jpg)
ISTANBUL taz | Es waren schockierende Bilder, die da in den letzten Tagen des alten Jahres über die Bildschirme der türkischen Nachrichtenstationen flimmerten. Ältere Männer lagen niedergeschlagen auf einem zentralen Platz in Ankara, andere standen mit zerrissenen Kleidern mitten im Winter knietief im Wasser.
Was da gezeigt wurde, war Ergebnis eines Einsatzes, bei dem hunderte Polizisten der Spezialeinsatztruppen erbarmungslos auf völlig friedliche und harmlose Demonstranten einschlugen und sie mit Wasserwerfern traktierten. Dabei waren die Opfer dieses Polizeieinsatzes keine vermummten, Steine werfenden Linksradikale, sondern zumeist gestandene Familienväter in ihren Fünfzigern, die einem Aufruf von Türk-Is, dem eher konservativen, staatstreuen Gewerkschaftsdachverband gefolgt waren und in Ankara dafür demonstrierten, dass die Regierung früher gemachte Versprechen ihnen gegenüber einhielt.
Allen Demonstranten gemeinsam ist, dass sie bis jetzt in einem staatlichen Betrieb im Tabak- oder Alkoholsektor beschäftigt waren. Dieses frühere Staatsmonopol Tekel war vor Jahren von der Regierung aufgelöst und nach und nach privatisiert worden. Jetzt sind viele der früheren staatlichen Fabriken dichtgemacht und die Arbeiter auf die Straße gesetzt worden. Weil das bereits bei dem Verkauf der Fabriken absehbar war, hatte man die Beschäftigten mit dem Versprechen beruhigt, sie würden in anderen Staatsbetrieben Ersatzarbeitsplätze bekommen. Doch angesichts der Wirtschaftskrise kann oder will die Regierung diese Zusagen nicht einhalten.
Die Tekel-Arbeiter sind bei Weitem nicht die Einzigen, die in der Türkei derzeit auf der Straße stehen. Die Weltwirtschaftskrise hat am Bosporus weniger die Banken, dafür umso mehr die Beschäftigten erwischt. Während die Börse fast schon wieder auf ihrem Höchststand von 2007 angekommen ist, sind jeden Monat mehr Menschen ohne Arbeit. Nach offiziellen Statistiken sind es 13,5 Prozent.
Da mehr als die Hälfte der Beschäftigten aber ohne Sozialversicherung gearbeitet hat und folglich gar nicht registriert war, dürften die realen Zahlen nach Schätzungen der meisten Ökonomen eher bei 25 Prozent liegen. Bei Schul- oder Universitätsabgängern, die einen Job suchen, ist die Zahl noch höher. Der größte Teil der Industriearbeitsplätze hängt in der Türkei - wie in Deutschland - vom Export ab. In den Sektoren Textil, Autobau, Haushaltswaren und Schiffsbau ist der Export brutal eingebrochen.
Besonders dramatisch ist der Einschnitt im Schiffsbau. Die Werftgelände im Istanbuler Vorort Tuzla sehen heute völlig verwaist aus. Etliche Betriebe haben die Tore ganz geschlossen, in anderen werden mit einer kleinen Stammbelegschaft Restaufträge abgearbeitet. Cem Kaya, Generalsekretär von Limter Is, einer kleine Gewerkschaft für Werftarbeiter, die zum linken Gewerkschaftsdachverband DISK gehört, hat die Zahlen alle im Kopf. Von den 40.000 Arbeitern, die hier noch im Frühjahr 2008 beschäftigt waren, sind jetzt höchstens noch 15.000 übrig, sagte er gegenüber der taz. Da rund 80 Prozent der Arbeiter über Subunternehmen als Zeitarbeitskräfte in die Werften kamen, konnten sie sofort gefeuert werden. Eine soziale Absicherung gibt es nicht. Die Leute, meint Kaya, gehen zurück in ihre Dörfer und leben dort von der Subsistenzwirtschaft. Das gilt nicht nur für Werftarbeiter. Das Dorf und die Großfamilie sind nach wie vor die primären sozialen Auffangstationen. Einige Istanbuler Bezirke zahlen gestrandeten Arbeitssuchenden aus Anatolien sogar den Umzug zurück aufs Dorf, wenn sie nur bereit sind, zu verschwinden. J
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