Arbeitsbedingungen in Katar: Alles nicht so schlimm. Oder doch?
Die Klagen über miese Jobbedingungen in Katar reißen nicht ab. Die Arbeitsorganisation ILO beschwichtigt – zu Unrecht, mahnen Aktivist:innen.
Drei Tage vor Beginn der Fußball-WM melden sich erneut migrantische Arbeiter:innen und deren Familien mit schweren Anschuldigungen gegenüber Katar zu Wort. In einem am Donnerstag von Human Rights Watch (HRW) verbreiteten Video ist die Rede von Misshandlungen, Lohndiebstahl, Arbeit in extremer Hitze und ungeklärten Todesfällen unter den Wanderarbeiter:innen in dem Wüstenemirat. Die Vorwürfe sind altbekannt und wurden vielfach dokumentiert. Die von den Arbeiter:innen und HRW geforderten Entschädigungen wurden indes nicht gezahlt.
In eigentümlichem Gegensatz hierzu steht, was die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) zur Lage in Katar verbreitet. Man habe sich für „eine gemeinsame Vision versammelt“ – von „großen Reformen“ ist da die Rede. Die Kataris selbst kontern Kritik an den Arbeitsbedingungen in ihrem Land mit Verweis auf die ILO, die ihnen Fortschritte bescheinige, für die „andere Länder Jahrzehnte gebraucht“ hätten.
25 Millionen Euro für die Untersuchungen
Im Jahr 2014 hatten zwölf Gewerkschafter:innen bei der ILO Beschwerde gegen Katar wegen „eklatanter Nichtbeachtung“ der Arbeitsrechte eingelegt. Zwangsarbeit sei „systematisch und weit verbreitet“, hieß es darin. Seither befasst sich die ILO mit der Lage im Land. „Den Begriff ‚Untersuchungen‘ verwenden wir nicht, das trifft es nicht, was wir tun“ sagt Max Tuñón, der Leiter der 2017 in Doha eröffneten ILO-Vertretung, im Gespräch mit der taz. Zwölf Mitarbeiter:innen unterhält die ILO dort heute, 25 Millionen Euro bekam sie dafür von Katar.
Die ILO veröffentlicht Berichte dazu, wie es um die Arbeitsrechte in dem Wüstenemirat steht. Zuletzt, kurz vor Beginn der WM, lobte sie nicht nur den 2021 eingeführten Mindestlohn von umgerechnet 275 US-Dollar im Monat, sondern auch die „Demontage“ des ausbeuterischen „Kafala-Systems“, bei dem der Arbeitgeber ähnlich wie ein Vormund über seine Beschäftigten bestimmt, außerdem ein Lohnsicherungssystem namens WPS, Online-Beschwerdemöglichkeiten beim Arbeitsministerium und verbesserte Arbeitsinspektionen.
„Die Reformen an sich sind nicht so schlecht“, sagt Vani Saraswathi von der Initiative Migrants Rights in Katar, der taz. „Auf dem Papier kann man viel reformieren. Das nützt aber gar nichts, wenn es keinen Zugang zu Rechtsmitteln gibt, um das durchzusetzen.“
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Die ILO verweist darauf, dass 1,66 von 1,71 Millionen Arbeiter:innen und 94 Prozent aller Betriebe Katars mittlerweile vom Lohnsicherungsmechanismus WPS erfasst seien. Im vergangenen Jahr hätten im Schnitt monatlich 2.000 Arbeiter:innen Online-Beschwerden beim Arbeitsministerium eingereicht. Die wenigen Arbeiter:innen, die es wagten, sich zu äußern oder zu protestieren, würden schikaniert, eingesperrt und abgeschoben, sagt hingegen die aus Indien stammende Journalistin und Aktivistin Saraswathi.
Tatsächlich können Arbeitsmigrant:innen seit November 2020 selbstständig den Arbeitgeber wechseln, was vorher wegen des Kafala-Systems unmöglich war. Über 350.000 machten von dem Recht Gebrauch. Das anhaltende Problem, laut Saraswathi: Die jeweilige Aufenthaltsgenehmigung bleibt weiter an den Arbeitgeber gekoppelt – und der kann nach einer Kündigung unter anderem den Personalausweis für ungültig erklären. Die Arbeiter:innen können sich dann zwar einen neuen beschaffen. Doch das kostet Zeit, viele scheuten davor zurück und bleiben aus diesem Grund bei Arbeitgebern, auch wenn diese sie ausbeuten. Saraswathi hat viele solcher Haken bei den Reformen aufgelistet.
Unklarheit bei den Todeszahlen
„Es wurden beträchtliche Fortschritte erzielt, aber Herausforderungen bleiben bestehen“, erklärt der ILO-Verteter Tuñón und räumt ein: „Natürlich gibt es Fälle, in denen es zu Ausbeutung kommt oder wo Zwangsarbeit vorliegt.“ Ein Teilprogramm der ILO befasst sich mit jenen Fällen. Doch es sei „irreführend, die Millionen Wanderarbeiter in Katar als Zwangsarbeiter zu bezeichnen.“ So irreführend wie die beharrlich kursierende Zahl von 6.500 Toten im Zusammenhang mit den WM-Vorbereitungen: „Das ist die Gesamtzahl der südasiatischen Staatsangehörigen, die über einen Zeitraum von zehn Jahren in Katar gestorben sind.“
Kein einziges Mal war die ILO allerdings auf den Baustellen. Und sie hat auch keinen der Todesfälle selber untersucht. „Das ist nicht unsere Aufgabe“, sagt Tuñón. „Unsere Aufgabe ist es, mit der Regierung zusammenzuarbeiten, damit deren Inspektoren ihre Arbeit effizienter machen können.“ So trainiert die ILO die staatlichen Kontrolleure seit 2018. Da der Staat hinter dem Bau der WM-Stadien steht, kontrolliert er sich somit selbst. Doch das sieht Tuñón nicht als Problem.
Er verweist auf eine Telefonhotline der ILO, bei der Kataris Arbeitsrechtsverstöße melden könnten. „Über die bekommen wir jeden Tag Beschwerden“, sagt Tuñón. Auf diese Art sei die ILO aus erster Hand darüber informiert, was falsch laufe.
Katar könne „mit westlichen Kritikern tanzen, wohl wissend, dass es vor Ort nichts ändern muss“: So beurteilt es hingegen die Migrant:innenrechtlerin Vani Saraswathi.
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