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Arbeit in Serie: Die Läuferin„Laufen ist mein Job“

Die 1.500-Meter-Läuferin Caterina Granz will zu Olympia nach Tokio. Der Einsatz in diesem Sport ist extrem, das Einkommen extrem prekär.

Foto: Yvonne Kuchschel

Der Arbeitsplatz

Die rote Kunststoffbahn liegt verlassen inmitten der Weddinger Rehberge. Wenn man nicht weiß, wonach man sucht, läuft man an dem kleinen Tor zur Sportanlage glatt vorbei. Das Fußballfeld ist abgesperrt, die Stabhochsprunganlage bedeckt ein unförmiger Metallkasten gegen den aufziehenden Regen. Die niedrige Tribüne vor dem nüchternen Vereinsheim wurde gebaut, um Bezirksligisten von der Seitenlinie aus anzufeuern. Es ist, kurz gesagt, ein Ort, der eher nach Kreismeisterschaft aussieht als nach Olympia.

Tatsächlich ist das Stadion Rehberge der Arbeitsplatz von einer von Deutschlands besten Mittelstrecklerinnen: Caterina Granz bereitet sich hier auf die Leichtathletik-WM in Doha in Katar Ende September vor. Nächstes Jahr will sie zu den Olympischen Spielen nach Tokio. Von montags bis freitags ist sie jeden Tag hier, von 17 bis 19 Uhr. Am Wochenende, und manchmal noch vormittags, rennt sie außerdem durch den Tiergarten oder den Grunewald.

Wenn sie mal längere Zeit weg sei, vermisse sie das Stadion sogleich, sagt Granz. „Und wenn der Sommer kommt, die ersten heißen Tage, dann riecht die Tartanbahn ganz speziell. Dann ist gleich wieder die Vorfreude da, die Aufregung vor der Saison.“

Arbeit in Serie (Teil 9)

Mit unserer „Arbeit in Serie“ werfen wir alle zwei Wochen Schlaglichter auf die Berliner Arbeitswelt, auf spannende Tendenzen und bedenkliche Phänomene. MehrfachjobberInnen, moderne ArbeitssklavInnen, ArmutsrentnerInnen: Wir schauen dahin, wo es wehtut. Aber auch dahin, wo die Berliner Wirtschaft boomt: Immobilienbranche, Unterhaltungsindustrie, digitale Transformation. Wir stellen Fragen nach Wertschätzung und Perspektiven. Wir sprechen mit Menschen, die typisch sind für Entwicklungen und doch auch ihre ganz eigene Geschichte erzählen. Alle Folgen finden sich unter taz.de/arbeitinserie. (taz)

Der Mensch

Caterina Granz, 25 Jahre alt, startet für die LG Nord Berlin. Ihre Spezialstrecke, die 1.500 Meter, ist sie Anfang Juni bei einem Sportfest im finnischen Lahti in exakt 4:07,77 Minuten gerannt. Nur eine deutsche Läuferin war dieses Jahr schon schneller. Anfang August ist sie im Berliner Olympiastadion Deutsche Meisterin geworden.

Granz hat diese typische Mittelstrecklerinnenfigur: schmal, aber athletisch, ohne zerbrechlich zu wirken, wie ihre Kolleginnen von den 5.000 Metern aufwärts. Die blonden Haare hat sie zu einer Art Knoten hochgewuselt, dazu dezentes Make-up, etwas Mascara. Alles andere macht auch keinen Sinn, wenn man gleich 6 mal 300 Meter „im 15-Hunderter-Renntempo“ (Granz) auf die Bahn bringen muss, wenn es regnet, und dann noch der Schweiß.

Granz ist in Glienicke/Nordbahn aufgewachsen, gleich hinter der Stadtgrenze. Neben der Lauferei studiert sie Psychologie an der Freien Universität in Dahlem, „weil man den Sport ja nicht für immer machen kann“. Auf Instagram folgen ihr rund 2.500 Fans zu Wettkämpfen in aller Welt oder gucken ihr beim Nudelkochen zu. Das klingt lustig, tatsächlich ist Instagram für Granz unbezahlte Arbeitszeit, doch dazu später.

„Ich bin ein sehr sozialer Mensch“, sagt sie über sich selbst. „Ich habe viele Freunde, die überhaupt nichts mit dem Sport zu tun haben.“ Das gilt auch für ihre beiden MitbewohnerInnen in der WG in Mitte, in der sie wohnt. Granz sagt, sie brauche das: noch andere Themen zu haben neben dem Sport. „Mein Leben ist mir zu wichtig, als dass ich für einen Titel oder eine Zeit alles aufgeben würde – und ich glaube auch nicht, dass ich dann erfolgreich wäre.“

Wie alles begann

Seit Granz 14 Jahre alt ist, startet sie für die LG Nord Berlin. Ihr Trainer Detlef Müller hat sie bei einem Schulcrosslauf entdeckt, seitdem ist er ihr Coach. „Ich fand Laufen immer ganz cool, aber eigentlich hatte ich anfangs gar keine besondere Lust drauf. Es war nie mein Traum, Olympiasiegerin zu werden.“ Granz fand Tennis lange spannender als Laufen, „in den Laufsport bin ich eher so reingerutscht. Mein Trainer hat mich behutsam aufgebaut. Ich glaube, das ist einer der Gründe, warum ich heute noch mit Leidenschaft dabei bin.“

In den Laufdisziplinen hat man mehr Zeit, als in vielen anderen Sportarten, um richtig gut zu werden. Turnerinnen sind mit Mitte 20 alt. Läuferinnen sind mit Mitte 30 häufig erst richtig gut. Das gilt nicht unbedingt für die 1.500 Meter, aber oft verabschieden sich MittelstrecklerInnen mit einer zweiten Karriere im Straßenlauf, bevor sie in Sportlerrente gehen.

Die Arbeitszeit

Im Schnitt trainiert Granz drei Stunden pro Tag. Hinzu kommen Physiotherapie und Wegezeiten, denn oft rennt sie auch im Charlottenburger Mommsenstadion mit KollegInnen vom SCC Berlin, die in etwa auf ihrem Niveau trainieren. Dazu die Wettkämpfe, im Sommer ist Granz fast jedes Wochenende unterwegs. Es gebe nur drei, vier Wochen im Jahr – nach der Saison und bevor die neue vorbereitet wird – wo sie wirklich abschalten könne: „Schon extrem.“

Zwar gibt es freie Tage, Regenerationstage heißen die in ihrem Trainingsplan, aber da muss sie sich eben – ausruhen. „Da kann ich nicht am Vortag auf eine Party gehen.“ Granz sagt, sie werde aber ohnehin schnell kribbelig, wenn sie tatsächlich mal Pause habe. „Es würde mich nicht erfüllen, jeden Abend feiern zu gehen, auch wenn ich mir das manchmal wünsche.“ Sie möge es, wie der Sport ihre Tage strukturiert, den Takt vorgibt: „Ich habe es schnell satt, in den Tag hinein zu leben.“

Bezahlung

LeichtathletInnen verdienen einen Bruchteil von dem, was sich in publikumswirksamen Sportarten wie Fußball an Kohle machen lässt. Viele haben überhaupt keine Geldgeber und sind deshalb auf Sportförderung angewiesen. Oder sie machen ein Studium oder gehen als SportsoldatIn zur Bundeswehr, weil dann Zeit zum Trainieren und eine finanzielle Absicherung zusammen kommen. Granz: „Klar, das ist natürlich irgendwo ungerecht, aber kann ich die Leute zwingen, sich für Leichtathtletik zu interessieren?“

Granz bestreitet ihr Auskommen „aus verschiedenen Töpfen“: 700 Euro monatlich – die Zuschüsse wurden gerade erhöht (siehe Infokasten) – kommen von der Deutschen Sporthilfe. Hinzu kommen Start- und Preisgelder, und da liegt das schnelle Geld für LäuferInnen buchstäblich auf der Straße: „Ein Sieg bei einem Straßenlauf bringt schnell mal 800 Euro.“

Bei Bahnwettkämpfen, also im Stadion, liegt die Latte höher: Bei den internationalen Topveranstaltungen wie den Diamond League Meetings – quasi die Champions League der Leichtathletik – kann Granz im Moment froh sein, wenn sie überhaupt eingeladen wird. Für eine Startprämie ist ihr „Marktwert“, der sich in erster Linie an internationalen Medaillen festmacht, noch nicht hoch genug. „Bei nationalen Sportfesten bekomme ich 200 bis 300 Euro Startprämie. Wenn ich dann auch noch gewinne, kann ich so mit 1.000 Euro aus einem Meeting rausgehen.“ 15 Prozent der Prämien und Startgelder gehen an ihren Manager, der versucht, sie in die Startfelder der großen Top-Meetings zu bringen.

Und dann ist da noch der Vertrag mit Nike: Auf ihrem Instagram-Kanal und bei Wettkämpfen trägt Granz die Marke spazieren, dafür spendiert Nike die Klamotten und organisiert „Shootings“ für Werbekampagnen, auch auf den Titel einer Laufzeitschrift hat Granz es geschafft. Über eine finanzielle Unterstützung durch Nike verhandelt sie gerade.

Spitzensport in Berlin

In den Bundeskadern der olympischen Sportarten waren 2017 (neuere Zahlen hat der Landessportbund Berlin e. V. nicht) 346 Berliner AthletInnen vertreten. Wer es dahin schafft, bekommt finanzielle Unterstützung durch die Stiftung Deutsche Sporthilfe.

Die Berliner Sporthilfe unterstützt international startende BerlinerInnen mit einem Jahreseinkommen von unter 35.000 Euro brutto. 2017 wurden laut LSB 146 Anträge mit rund 45.000 Euro gefördert.

Duale Ausbildung Bundeswehr, Polizei und Zoll sind Arbeitgeber für SpitzensportlerInnen, in Brandenburg auch die Feuerwehr. Der Deutsche Olympische Sportbund listet außerdem Partnerunternehmen aus der Privatwirtschaft, die BundeskaderathletInnen die Möglichkeit geben, Sport und Ausbildung zu verbinden. (taz)

Weil man neue Lauftights nicht essen kann und Startprämien nicht zuverlässig Miete zahlen, haben sie bisher auch die Eltern und ein privater Förderer unterstützt. Seit Kurzem arbeitet Granz außerdem zehn Stunden pro Woche als studentische Hilfskraft, das bringt ebenfalls 500 Euro im Monat. Die Frage, ob ihr das Laufen finanzielle Sicherheit geben kann, sei für sie lange zweitrangig gewesen. „Jetzt, wo ich älter werde, wird das wichtiger, weil ich momentan meine akademische Karriere für das Laufen aufschiebe.“

Es fängt an zu regnen. Granz wickelt sich einen Schal um den Hals. Jetzt bloß nicht krank werden: Wir sind mitten in der Sommersaison, Granz hat die WM-Norm von 4:06,50 Minuten, die der Deutsche Leichtathletikverband für Doha fordert, noch nicht gelaufen. Wir wechseln unter das Vordach des Vereinsheims. Granz legt sich eine Trainingsjacke um die, natürlich, Nike-behosten Beine.

Das Gewissen

„Das Laufen mache ich eigentlich nur für mich. Da denke ich häufiger drüber nach“, sagt Granz. „Andererseits, ich bin als Sportlerin ja auch Vorbild. Und wenn ich mir anschaue, wie begeistert viele Menschen im Stadion sitzen und uns zugucken: Da habe ich schon das Gefühl, ich kann etwas zurückgeben, eine Show bieten.“

Wertschätzung

„Die meisten finden super, was ich mache, aber die wenigsten sehen es als meinen Beruf an“, sagt Granz. Das liege auch an ihr selbst: „Es fiel mir lange schwer zu sagen: Laufen ist mein Job.“ Jetzt, wo sie mit dem Sport langsam Geld verdiene, falle es ihr leichter: „Ich habe das Gefühl, dass ich damit vor anderen stärker rechtfertigen kann, was ich mache.“

Die Währung Aufmerksamkeit: Bei den professionellen Fotoshootings setzt Nike sie wie ein Model in Szene, einige Bilder postet sie auf Instagram, was ihr Sponsor wiederum „gerne sieht“. Ist da der Glamourfaktor die Belohnung? „Ja, voll!“ Reicht das? Sie ringt um eine Antwort: „Ja, das ist so eine Grauzone. Da ist wieder die Frage: Ist das jetzt mein Job, kann ich dafür Geld verlangen?“ Für Granz, die noch keine Olympiamedaille zu Hause hat, ist es immer noch so: „Es ist natürlich supercool zu sagen: Ich bin Nike-Athletin.“

Perspektive

„Mein Ziel ist Olympia, und auf dem Weg dahin meine erste WM in Doha.“ Von einer Medaille mag sie nicht sprechen. Da ist sie Realistin: Seit Jahren machen fast ausschließlich afrikanische LäuferInnen die Medaillen auf den Mittel- und Langstrecken unter sich aus. Aber, sagt Granz: „Ich setze mir keine Grenzen.“

Die 100-Euro-Frage

Was sie sich von 100 Euro kaufen würde? Sie schweigt. Ihre Trainingsgruppe trudelt ein. Der Regen hat aufgehört. Nein, ihr fällt wirklich nichts ein. Die ­WM-Norm kann man nicht kaufen.

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